Buch der Woche

Helene Hegemann: 83 Likes und das Ende der Welt

Helene Hegemann, geboren 1992, verfilmte ihr Debüt „Axolotl Roadkill“.
Helene Hegemann, geboren 1992, verfilmte ihr Debüt „Axolotl Roadkill“.Joachim Gern
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In ihrem Erzählband „Schlachtensee“ beschreibt Helene Hegemann die westliche Hochkultur als dekadentes Chaos, in dem man unausweichlich auf den Abgrund zusteuert. Dabei bleibt ein schales Gefühl.

Man weiß nicht so recht, was man da jetzt eigentlich gelesen hat, wenn man „Schlachtensee“, den neuen, 15 „Stories“ umfassenden Erzählband von Helene Hegemann nach der Lektüre weglegt. Es wird sehr viel gesoffen darin, es werden diverse Drogen konsumiert, der Ton zwischen den Figuren ist meist rau, es geht um Sex und um den Tod, genauer um diverse Todesarten, die immer wieder in den Köpfen der Figuren auftauchen, um den Akt des Tötens und hier vor allem um die Tötung von Tieren durch den Menschen (ein Pfau wird mit einem Golfschläger erschlagen), aber auch um das Töten von Tieren durch andere Tiere (das Spiel einer Katze mit einem von ihr tödlich verwundeten Vogel), und auch um den Prozess des Sterbens (des eigenen Vaters nach einer Krebsdiagnose). Man erinnert vielleicht Wildschweine, weil diese Tiere und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, so man als Mensch mit ihnen zusammentrifft, mehrfach in dem Band auftauchen (etwa in einer „braunen“ Provinz, in der zwei schwule Männer nicht zueinander finden), und man erinnert vielleicht einzelne Namen von Figuren, weil sie keine Eigennamen sind, sondern Begriffe und teils wiederholt auftauchen (Minute, Safran, Indigo).

In den Niederungen des Westens

Zu sagen, wer diese Figuren wirklich sind, wird wahrscheinlich kaum jemandem gelingen, ebenso wenig wie eine der Stories nachzuerzählen oder konkrete Themen zu nennen, die diese Stories behandeln. Denn „Stories“ im klassischen Sinn sind diese Texte von Hegemann, die, Jahrgang 1992, bereits drei Romane veröffentlicht und drei Filme gedreht hat, auch nicht. Es gibt keine stringente Handlung, es gibt keine Konflikte, die sich langsam, mit dem Fortlauf einer Handlung offenbaren würden, und auch das Verhältnis zu den auftretenden Charakteren vertieft sich nicht. „Schlachtensee“ setzt auf die Flüchtigkeit des Moments, der Band, so könnte man vielleicht sagen, erzählt die Gegenwart, eine sehr kaputte Gegenwart in den Augen der Autorin, und zwar möglichst so, wie man sie im Alltag wahrnimmt: ungefiltert, chaotisch, irrational. Erzähltechnisch heißt das: Die Stories bestehen aus einzelnen Momenten, die nur vage kausal miteinander verknüpft zu sein scheinen, sprachlich wiedergegeben in der Mündlichkeit eines saloppen Laut-Denkens. Die Textstruktur, die sich so ergibt, ist vielleicht das Interessanteste am Erzählband. Denn dass lebensmüde, süchtige Existenzen durch eine ruinierte Welt taumeln, kennt man längst. Aber in „Schlachtensee“ erreicht die Kaputtheit einen neuen Grad, sie ist vollkommen entgrenzt. Die hier geschilderte Welt ergibt absolut keinen Sinn mehr, sie ist das totale Chaos, kann nicht mehr begriffen werden. Entsprechend ergibt sich aus den Einzelteilen auch keine „ganze“ Story mehr, größere Sinnzusammenhänge zwischen geschilderten Sequenzen sind auch bei aufmerksamer Lektüre zumindest vordergründig kaum herzustellen. Man tappt als Leserin ähnlich planlos wie die Figuren durch die menschlichen Niederungen der dekadenten westlichen Hochkultur, die, daran lässt der Band keinen Zweifel, dem Untergang geweiht ist, und alles mit sich in den Abgrund reißen wird – woraus sich die ständige Präsenz von Krieg, Tod, Leid und das Hin- und Hergeworfensein der Figuren zwischen Affekten der Wut, des Hasses, der Angst auf den rund 260 Seiten des Bandes erklärt. So interessant Hegemanns Versuch, dem tradierten Storytelling zu entkommen und stattdessen die Wirklichkeit hyperrealistisch zu beschreiben, ist, die Textstruktur ist zugleich wohl der Grund, weshalb der Erzählband keinen tieferen Eindruck hinterlässt.

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