Quergeschrieben

Der Intimverkehr ist für die Rollengestaltung irrelevant

Kann nur ein homosexueller Schauspieler einen Schwulen spielen? Colourblind Casting ist das erfrischende Gegenkonzept zum Authentizitätsmodell.

In den 1990er-Jahren spielte Tom Hanks in dem Aids-Drama „Philadelphia“ einen mit HIV infizierten Yuppie-Anwalt, der wegen seiner Homosexualität am Arbeitsplatz gemobbt wurde und schließlich an der damals noch unheilbaren Krankheit starb. Hanks bekam den Oscar für die beste Hauptrolle. Heute würde er als Hetero diese Figur mangels Authentizität nicht mehr spielen, sagte er unlängst in einem Interview mit der „New York Times“. Diese Anbiederung an den politisch hyperkorrekten Meinungsmarkt sei dem großartigen Schauspieler verziehen. Schließlich bevorzugt Hollywood ja tatsächlich die Kongruenz von Rolle und Biografie, wobei dann aber streng genommen nicht nur Heteros keine schwulen, lesbischen oder queeren Figuren spielen, sondern auch Schwule und Lesben keine heterosexuellen Rollen mehr annehmen und genderfluide Menschen ausschließlich genderfluide Charaktere darstellen. Abgesehen davon, dass es außerhalb der eigenen vier Wände genau niemanden etwas angeht, wer mit wem wie oder wie nicht intim verkehrt, solange es im Einverständnis aller am jeweiligen Akt Beteiligten geschieht, wäre dies allerdings künstlerischer Unfug der Sonderklasse. So tun als ob, in andere Identitäten schlüpfen, die Geschichte von Menschen erzählen, die völlig anders ticken als man selbst, ist schließlich die Essenz der Schauspielkunst, lediglich mediokre Darsteller stellen am liebsten sich selbst dar. Wie Hanks es mit seinen Authentizitätsansprüchen in Bezug auf seine zahllosen anderen Filme hält, blieb übrigens ungeklärt.

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Ein Jahr nach „Philadelphia“ reüssierte er beispielsweise in und als „Forrest Gump“. In dem mit sechs Oscars und drei Golden Globes ausgezeichneten Film des Regisseurs Robert Zemeckis spielte Hanks einen gutmütigen, jungen Mann mit einem IQ von 75, der zufällig entdeckt, dass er seine Beinschienen, die er wegen einer Wirbelsäulenerkrankung trägt, nicht nur ablegen, sondern außerdem superschnell laufen kann. Hanks ist in seinem wirklichen Leben weder geistig noch körperlich behindert, er war weder Langstreckenläufer noch Sprinter. Er war auch nie Polizist, nie ein Monster, nie Journalist, nie Politiker, nie Anwalt, nie Pilot, nie GI, nie Gefängniswärter, nie Hilfsarbeiter. Er ist griechisch-orthodox, nicht jüdisch. Die Abgründe von Mördern kennt er vermutlich nur aus seinen Drehbüchern. Trotzdem hat er diese Charaktere und Eigenschaften mit meist bewundernswerter Glaubwürdigkeit verkörpert. Selbstverständlich dürfen Schauspieler Rollen aus verschiedensten, künstlerischen wie persönlichen, Gründen ablehnen. Aber ebenso selbstverständlich dürfen, unabhängig von Geschlechtsidentität, Sexualpraxis, Ethnie, Hautfarbe und Konfession alle alles spielen, auch die britische Oscarpreisträgerin Helen Mirren die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir und die israelische Schauspielerin Gal Gadot die ägyptische Pharaonin Kleopatra, ohne dass der einen Jewfacing und der anderen Whitewashing um die Ohren fliegt. Männer sollen in Frauen- und Frauen in Männerrollen schlüpfen können, so wie Cate Blanchett, die 2007 in dem Film „I'm not there“ einen hinreißenden, jungen Bob Dylan gab. Doch erst vor ein paar Jahren musste Scarlett Johansson nach heftigen LGBTQI*-Protesten die Rolle eines Transmannes in dem auf einer wahren Begebenheit basierenden Film „Rub & Tug“ zurücklegen. Zwei Jahre später sollte der Film zu einer TV-Serie für einen Trans-Schauspieler redimensioniert werden. Seither ist es still um das Projekt, offenbar blieb es als Opfer moralischer Entrüstung auf der Strecke.

Das erfrischende Gegenkonzept zum Authentizitätsmodell nennt sich Colourblind Casting. Diese farbenblinde Rollenvergabe erbringt den Beweis, dass es die weitaus lohnendere Aufgabe von Kunst ist, Grenzen und Gegensätze zu überwinden, anstatt die Fragmentierung der Gesellschaft in ethnische, religiöse, politische, sexuelle Klein- und Kleinstschrebergärtnereien zu betreiben.

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