Wort der Woche

Alchemie

Italienische Forscher wiesen nun nach, dass antike Texte zur Alchemie kein obskures Geschwurbel sind, sondern sehr viel chemischen Sachverstand beinhalten.

Alchemie hat einen ziemlich schlechten Ruf. Verschrien als esoterisches Geschwurbel von Magiern, die nach dem „Stein der Weisen“ suchten, unedle Metalle in Gold verwandeln wollten und der Astrologie huldigten, gilt Alchemie vielen als kompletter Gegensatz zur heutigen Wissenschaft.

Entstanden ist dieses Lehrgebäude im alten Ägypten, es gelangte über Griechenland ins Römische Reich und später, durch Vermittlung byzantinischer und arabischer Gelehrter, in das europäische Mittelalter.

Die Schriften der Alchemisten sind voll von obskuren Formeln und mystischen Prozeduren, die heute nur schwer verständlich sind. Doch wie eine interdisziplinäre Forschergruppe der Universität Bologna nun zeigen konnte, sind sie in ihrem Kern keine wirre Pseudowissenschaft, sondern haben durchaus Sinn. Die Philologen, Historiker und Chemiker um Matteo Martelli durchforsteten antike Überlieferungen – alte Papyri, syrische Manuskripte, Texte von Demokrit, Dioskurides, Zosimos von Panopolis, Vitruv oder Plinius d. Ä. – systematisch nach Methoden zur Herstellung von Quecksilber (https://alchemeast.eu). Dieses bei Raumtemperatur flüssige chemische Element hatte in der Alchemie eine spezielle Bedeutung: Man dachte, dass es ein Bestandteil aller Metalle und daher wesentlich für die angestrebte Umwandlung von Metallen sei.

Nach genauem Studium der Texte wurden die Rezepturen im Labor – unter Einhaltung heutiger Sicherheitsvorkehrungen – „nachgekocht“. Die überlieferten Verfahren beruhen alle auf dem Mineral Zinnober, aus dem durch „kalte Extraktion“ (Verreiben von Zinnober mit anderen Metallen im Mörser) oder „heiße Extraktion“ (Erhitzen von Zinnober mit verschiedensten Zusätzen) in einer Redox-Reaktion Quecksilber frei wird. Beim experimentellen Test der antiken Anleitungen zeigte sich, dass die alten Schriften sehr viel chemischen Sachverstand beinhalten, der einer kritischen Überprüfung durch die moderne Chemie durchaus standhält. Manche antike Rezepturen eröffnen sogar Reaktionswege, die in der Neuzeit bisher nicht beschritten wurden (PNAS, e2123171119).

Der Schluss der Forscher: Unsere heutige Chemie blicke auf eine sehr lange – und vergessene – Tradition experimenteller Forschung zurück, die man nun zurückgewinnen könne. Den größten Unterschied zwischen Alchemie und moderner Chemie sehen sie darin, dass das Wissen um chemische Reaktionen früher in einen völlig anderen kulturellen Kontext gestellt wurde als heute.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2022)

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