Gastkommentar

Für Johnsons Erben wird Nordirland ein Problem

(c) Peter Kufner
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Großbritanniens Wirtschaft steckt in der Krise. Nur Nordirland ist robuster, was die Brexiteers gar nicht gern sehen.

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Dr. Jakob A. Lundwall
(* 1991 in Salzburg) studierte Geschichte, Internationale Beziehungen und Politikwissenschaften in Großbritannien. Er unterrichtet als Academic Supervisor Europapolitik am Corpus Christi College der Universität Cambridge, an dem er auch seinen PhD gemacht hat, und forscht zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Die vom britischen Office of National Statistics verlautbarten ersten Quartalszahlen 2022 sind nicht erfreulich. Weder für den britischen Noch-Premierminister Boris Johnson noch für seine zahlreichen potenziellen Nachfolger in der konservativen Partei. Diese Zahlen stellen ein drängendes Problem für jeden künftigen Brexit-Nachlassverwalter von Johnsons Vermächtnis dar.

Die besten Zahlen aus allen vier Landesteilen des Vereinigten Königreichs lieferte ausgerechnet Nordirland – jene Region, die sonst eher mit dem Nimbus des Wirtschaftssorgenkinds behaftet ist. Das dortige Wachstum betrug 1,4 Prozent und lag damit signifikant über jenem der restlichen drei Landesteile (London als eigene Region, mit seiner überproportional starken Finanz- und Dienstleistungsindustrie ausgenommen). Inmitten der galoppierenden Inflation und zwischen Partygate und anderen Skandalen birgt diese Sachlage immense Komplikationen für die konservative Partei. Die jüngste Drohung der Regierung, einseitig wichtige Nordirland-Aspekte des von ihr ausgehandelten Austrittsabkommens mit der EU zu brechen, um „die Integrität des Vereinigten Königreichs“ zu bewahren, muss auch im Licht dieser Quartalszahlen betrachtet werden.

Nordirland befindet sich nach dem Brexit in einer Art regulatorischer Simultanexistenz – und hat somit Zugang zum EU- sowie UK-Binnenmarkt – mit einer Zollgrenze durch die Irische See verlaufend. Ein handlungstechnischer Vorteil, der so in der Welt und Großbritannien einmalig ist.

Der harte EU-Austritt hätte zur wirtschaftlichen Entfesselung des gesamten Königreichs führen sollen – evidente Schwierigkeiten wurden dann aber nicht dem Brexit, sondern bevorzugt Covid, einer uneinsichtigen EU, der Energiekrise oder dem Ukraine-Krieg zugeschrieben. Selbst als die OECD kürzlich ihre Wachstumsprognosen für die G20 veröffentlichte, schnitt lediglich Russland noch schlechter als Großbritannien ab.

Das Austrittsabkommen, 2019 von Johnson et al. in den Diensten eines fulminanten Wahlsiegs noch als „ofenfertig“ feilgeboten, schuf mit der Nordirland-Lösung ungewollt eine Art gelebten Gegenbeweis zum vermeintlichen Erfolg des Brexit. Seither verkörpert Nordirland im Grunde eine Art alternative Realität, in der der Brexit nicht vollumfänglich stattgefunden hat: Waren fließen weiterhin ungehindert in den Rest der EU und – aufgrund noch unvollständiger britischer Kontrollen über den Seeweg – auch nach Großbritannien. Dieses sinnbildliche Was-wäre-wenn avanciert allmählich zu einem eingefleischten Problem für die orthodoxen Anhänger eines härteren Brexit und die Unionisten in Nordirland – alle fürchten um die Unversehrtheit des Königreichs sowie des Brexit.

Viele meinen nun, die Partei stünde mit ihren vielen Skandalen dermaßen mit dem Rücken zur Wand und versuche, sich mit den Vertragsprovokationen gegenüber der EU abermals an ihrem wohlerprobten euroskeptischen Drehbuch. Selbst ehemalige Remain-Befürworter, wie Jeremy Hunt oder Außenministerin Liz Truss, vollbrachten nun den Wandel vom proeuropäischen Saulus zum euroskeptischen Paulus, um im Vorsitzrennen ihren Glauben an die reine Lehre eines harten Bruchs mit der EU zu unterstreichen (obwohl Ersterer diese Woche im zweiten Wahldurchgang aus dem Rennen schied). Keiner der Tory-Kandidaten will bisher vom angekündigten einseitigen Vertragsbruch mit der EU abweichen, seien doch „nun alle ,Brexiteers‘“, wie es Kandidatin Suella Braverman jüngst proklamiert hat.

Doch greift diese Annahme vom pawlowschen Anti-EU-Reflex der Tories viel zu kurz – es steht mehr auf dem Spiel als ein bloßer Wahlverlust: Brexiteers fürchten sich vor einem erfolgreichen Nordirland europäischer Prägung, das die Auswüchse des Brexit besser zu verkraften scheint als das übrige Königreich. Denn dadurch könnte sich entweder Nordirland sukzessive von Großbritannien hin zur Republik Irland entfremden oder der EU-Austritt insgesamt von der britischen Bevölkerung infrage gestellt werden – was zu einer existenziellen Gefahr für das Lebenswerk vieler Brexiteers werden könnte. Nordirland stimmte 2016 mehrheitlich für einen EU-Verbleib; der Großteil der dortigen Wirtschaftstreibenden befürwortet die derzeitige Lösung mit der EU; zum ersten Mal gewannen letzten Monat nicht die Unionisten, sondern Sinn Féin die Regionalwahlen, mehr noch: Katholiken stellen voraussichtlich sogar bald die nordirische Bevölkerungsmehrheit – durch die jetzige Nordirland-Lösung könnten diese Entfremdungstendenzen verstärkt werden.

Schottische Nationalisten (zumeist proeuropäisch) verweisen bereits emsig auf diese nordirische Sonderstellung, die doch auch für Schottland in Erwägung gezogen werden könne. Alle Brexiteers wissen, dass sie deswegen partout keine zwei parallelen Brexit-Realitäten dulden können. Weder aus wirtschaftlicher noch aus ideeller noch aus realpolitischer Sicht – schaffen diese doch gefährliche Vergleichswerte für den Erfolg oder Misserfolg des Brexit sowie neue praktische Tatsachen, die die Wiedervereinigung Irlands stetig denkbarer erscheinen lassen.

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