Es braucht ein wenig mehr Elan bei dem Streben, aus diesem unerquicklichen Zustand herauszukommen.
Neue Freie Presse am 23. März 1923
Jokele, geh du voran! Das ist die Devise unseres ganzen öffentlichen Lebens, der „Viribus unitis". Ersatz unserer Tage. Einer ruft es dem anderen zu und läßt es sich nicht nehmen, daß die größten Stiefel aus der Gegenseite sich befänden. Die Generalstabsberichte über den augenblicklichen Stand der passiven Resistenz gehören wieder zürn eisernen Bestand der Rechenschaftsberichte über unser aller Tun und Lassen. Es existiert eine geradezu verblüffende Mannigfaltigkeit der Kriegsschauplätze, und der Friedsensschluß ist da und dort in weite Ferne gerückt. Es wäre kein großes Wunder, wenn einer angesichts der „Tücke des Objekts“, die ihn auf Schritt und Tritt anfällt, einer Anwandlung von Lebensüberdruß unterläge.
Aber der Mann, dem ein wichtiger Brief verspätet zugestellt wird oder der sich die Hand an der Telephonkurbel verrenkt hat, sei angelegentlich davor gewarnt, sich deswegen etwa aufzuhängen. Entweder der Strick reißt, und dann käme er aus dem Regen in die Traufe, dann würde er im Spital die passive Resistenz auszukosten haben. Oder aber, sein Vorhaben gelingt, dann ist nur zu hoffen, daß er im Leben keinem Hakenkreuzler ein Dorn im Auge gewesen ist, daß er den Volkszählungsbogen ausfüllen durfte ohne Angst vor Ursin und Jerzabek.
Sonst kann ihm passieren, daß seine sterbliche Hülle zu längerem Aufenthalt in der Leichenhalle verurteilt wird. Denn auch die Angestellten der Kultusgemeinde stehen im Lohnkampf, und im allerbesten Fall wird der Selbstmörder auf Rabbiner und Kantor verzichten müssen. Friedensunterhändler vor die Front!
Verzicht auf die Prestigefrage, wenn wir bitten dürfen! Ein wenig mehr Elan bei dem Streben, aus diesem unerquicklichen Zustand herauszukommen! Das Publikum, das in dem Streit zwischen Bundesregierung und Postlern den weinenden Dritten abgibt und das Regiekartenbad ausgießen muß, ist davon bereits felsenfest überzeugt, in welch hohem Grad die Befolgung der Dienstvorschriften den Dienst unmöglich macht.
Ad oculos wurde uns demonstriert, daß wir nur deshalb Briefe zugestellt und Postsendungen ausgefolgt erhalten, Telegramme aufgeben und sogar einen Telephonanschluß durchsetzen können, weil man gemeinhin frisch, fröhlich, fromm und frei über die Dienstvorschriften hinwegvoltigiert. Der Idee nach sollte es
allerdings umgekehrt sein. Die Dienstvorschriften sind, genau genommen, mir dann einen Schuß Pulver wert, wenn sie zu einer Art Taylorsystem, zur möglichst zweckmäßigen Verwendung der Arbeitskraft der Angestellten führen. Aber die Erfahrungen der passiven Resistenz erhärten, wie wirklichkeitsfremd solche Einbildung unpraktischer Träumer wäre.
Die Regierungserklärung Hitlers
Ein Auszug aus der Rede des deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler, in der er auch den Reichspräsidenten Hindenburg huldigt.
Neue Freie Presse am 22. März 1933
Reichskanzler Adolf Hitler begann die von ihm zur Verlesung gebrachte Regierungserklärung mit dem Hinweis auf die im deutschen Volke herrschende Not und Armut, auf die vergebliche Suche von Millionen Deutschen nach dem täglichen Brot, die Verödung der Wirtschaft, die Zerrüttung der Finanzen und die Arbeitslosigkeit. Die Ursache dafür, daß seit zwei Jahrtausenden immer wieder dem Emporstieg der Verfall gefolgt sei, liege darin, daß der Deutsche, in sich selbst zerfallen, uneinig im Geist, zersplittert in seinem Wollen und damit ohnmächtig in der Tat, kraftlos in der Behauptung des eigenen Lebens sei. Erst wenn die Not und das Elend es unmenschlich schlug, wuchs im Volke der Sänger, Dichter und Denker die Sehnsucht nach einer neuen Erhebung, nach einem neuen Reich und damit auch nach neuem Leben.
Der Reichskanzler fuhr sodann fort: In die Zeit der von Bismarck vollzogenen staats- und damit machtpolitischen Einigung der deutschen Stämme fiel der Beginn jener weltanschaulichen Auflösung der deutschen Volksgemeinschaft, unter der wir heute noch immer leiden. Und dieser innere Zerfall der Nation wurde wieder einmal wie so oft zum Verbündeten der Umwelt. Die Revolution des November 1918 beendete einen Kampf, in den die deutsche Nation in der heiligsten Ueberzeugung, nur ihre Freiheit und damit ihr Lebensrecht zu schützen, gezogen war. Denn weder der Kaiser noch die Regierung noch das Volk haben diesen Krieg gewollt. Nur der Verfall der Nation, der allgemeine Zusammenbruch zwangen ein schwaches Geschlecht, wider das eigene bessere Wissen und gegen die heiligste innere Ueberzeugung die Behauptung unserer Kriegsschuld hinzunehmen.
Diesem Zusammenbruch aber folgte der Verfall auf allen Gebieten. Machtpolitisch, moralisch, kulturell und wirtschaftlich sank unser Volk tiefer und tiefer. Das Schlimmste war die Zerstörung des Glaubens an die eigene Kraft, die Entwürdigung unserer Traditionen und damit die Vernichtung der Grundlagen eines festen Vertrauens" Krisen ohne Ende haben unser Volk zerrüttet. Aber auch die übrige Welt ist durch das politische und wirtschaftliche Herausbrechen eines wesentlichen Gliedes ihrer Staatengemeinschaft nicht glücklicher und nicht reicher geworden. Aus dem Aberwitz der Theorie von ewigen Siegern und Besiegten kam der Wahnsinn der Reparationen und in der Folge die Katastrophe unserer Wirtschaft.
Während so das deutsche Volk und das Deutsche Reich im inneren politischen Zwiespalt und Hader versanken, die Wirtschaft dem Elend entgegentrieb, begann die neue Wendung der deutschen Menschen, die im gläubigen Vertrauen auf das eigene Volk dieses zu einer neuen Gemeinschaft formen wollen. Diesem jungen Deutschland haben Sie, Herr Generalfeldmarschall, am 30. Januar 1933 in großherzigem Entschluß die Führung des Reiches anvertraut. In der Ueberzeugung, daß aber auch das Volk selbst seine Zustimmung zur neuen Ordnung des deutschen Lebens erteilen muß, richteten wir Männer dieser nationalen Regierung einen letzten Appell an die deutsche Nation. Am 5. März hat sich das Volk entschieden und in seiner Mehrheit zu uns bekannt.
Einstein in Japan
Der große Wissenschafter wurde herzlich empfangen - und sorgte nicht nur wegen seines zu kleinen Zylinders für Aufsehen.
Neue Freie Presse am 21. März 1923
Berichte aus Tokio erzählen, daß die begeisterte Aufnahme, die Einstein dort fand, ihm den Aufenthalt in Japan zu einer Strapaze machte. Man empfing ihn mit zahlreichen Blumen- und Kranzspenden, mit Blitzlichtaufnahmen, und wohin er kam, forderte man von ihm stundenlange Vorträge über die Relativitätstheorie. Einstein war in aller Munde. Bilder von ihm und seiner waren in den Zeitungen und Ansichtskartenläden zu sehen.
Seine Schriften und seine Publikationen zum Thema wurden in den großen Buchhandlungen in besonderen Ausgaben massenhaft verkauft. Daß auch der Einstein-Film gezeigt wurde, ist selbstverständlich. Das Kuriosum aber ist, daß zwei junge Dozenten der Universität zur Publizierung der Theorie ein Relativitätsdrama verfaßten. Man erzählte sich sogar, daß die Herren Minister sich in einer Kabinettssitzung mit der Frage befaßten, ob sie wohl die Einstein‘sche Theorie verstehen könnten, und selbst der Prinz-Regent habe sich einen anderthalbstündigen Vortrag eines Spezialisten gefallen lassen müssen.
Mit großem Behagen wird auch eine Reihe von Einstein-Episoden erzählt und ausgeschmückt, so die des nicht mitgebrachten Gehrocke und Zylinders, weshalb der Gelehrte mit einem geliehenen Anzug, mit einem für seinen Kopf viel zu kleinen Zylinder in der Hand das kaiserliche Chrysanthemenfest besuchen mußte.
Das Pariser Lotto
Eine Art Fieber verbreitet sich über die ganze Stadt, alle Straßen und Plätze scheinen von einem Taumel beherrscht zu sein, das Volk drängt sich in den Lottokollekturen.
Neue Freie Presse am 20. März 1923
Aus Paris wird uns geschrieben: In Frankreich diskutiert man jetzt sehr eifrig die Gründe, die für und wieder eine "Nationallotterie" sprechen. Die große Zeit des kleinen Lottos, erzählt Jules Vertaut im "Temps", war im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Der erste und der sechzehnte Tag jedes Monats waren in Paris richtige Feiertage. Vom frühen Morgen an gab es für den Politiker und den Finanzmann, das Putzmädchen und den Kutscher, die Salondame und den Schankwirt, nur eine Losung: "Heute ist Ziehungstag. Werde ich Glück haben, werde ich gewinnen? Wird mein Terno gezogen werden?"
Eine Art Fieber verbreitet sich über die ganze Stadt, alle Straßen und Plätze scheinen von einem Taumel beherrscht zu sein, das Volk drängt sich in den Lottokollekturen, ein Rausch des Glücksspieles erfüllt die Atmosphähre mit seltsam erregender Vibration. Die Stimmung wird um so erregter, je mehr der Augenblick der Ziehung herannaht. Wahrscheinlichkeitsrechnungen werden angestellt, allerhand abergläubische Handlungen von seltsamer Symbolik werden keineswegs nur von alten Betschwestern, sondern auch oft von sehr gesetzten Herren, denen man eine derartige Naivität kaum zutrauen würde, verstohlen vorgenommen.
In einer engen Straße befindet sich ein von hohen Mauern umgebener geräumiger Hof, wo sich die Feierlichkeit der Ziehung abspielt. Alle Gespräche drehen sich nur um die Gewinnchancen. Ein dicker Wirt aus der Rue aux Ours hat vor Erregung einen ganz roten Kopf bekommen und er flüstert halblaut ein Stoßgebet. Eine hübsche junge Arbeiterin verzehrt unermüdlich kleine Schokoladebonbons und erwägt dabei mit ihren Nachbarinnen die Aussichten der von ihr gesetzten Nummern. Zwei Diener in Livreen öffnen eine Tür zu dem Raume, wo sich das Glücksrad befindet. Ein weißgekleidetes Kind mit einem roten Gürtel und verbundenen Augen wird auf einen Tisch gehoben, der neben einem riesigen Glücksrad steht. Das Kind zieht jetzt nach und nach die neunzig Nummern, die mit lauter Stimme ausgerufen, dem Publikum gezeigt und dann in kleinen Etuis aus Karton, die alle gleichförmig und gleich schwer sind, verschlossen und von einem anderen Kind in ein anderes Rad wieder gelegt werden, das dem ersten ähnlich ist.
Die Gewinnstnummern werden mit einer lauten und beinahe andächtigen Feierlichkeit in den Saal geschmettert. Jede Mitteilung löst ein Murmel aus, bei dem, wie in einem Opernchor, deutlich die beiden Parteien zu unterscheiden sind, die im Wechselgesang über die Erfüllung ihrer Hoffnungen jubeln oder über die Enttäuschung trauern. Mag man nun das Zahlenlotto für eine unsittliche Ausbeutung des Spieltriebes der unbemittelten Volksmassen oder für ein verhältnismäßig harmloses Ventil der Spielleidenschaft halten, jedenfalls gewährt es einen lehrreichen Einblick in die seelische Verfassung der großen Massen, deren Sensationsbedürfnis durch das Lotto eine allerdings sehr anfechtbare Befriedigung erfährt.
Goebbels spricht über die Rolle der Frau
Der deutsche Reichsminister spricht: Den ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie, und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Lande und Volke Kinder zu schenken.
Neue Freie Presse am 19. März 1933
In den Ausstellungshallen auf dem Kaiserdamm wurde gestern die Austellung "Die Frau" mit einer Rede des Reichsministers Dr. Göbbels eröffnet, in der er unter anderm ausführte: Niemand wird die Frau aus dem öffentlichen Leben, aus Arbeit, aus Beruf und Broterwerb hinausdrängen wollen, aber Dinge, die dem Mann gehören, müssen auch dem Mann bleiben, und dazu gehört die Politik und die Wehrhaftigkeit. Den ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie, und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Lande und Volke Kinder zu schenken.
Die Regierung ist fest entschlossen, dem Verfall der Familie und der blutmäßigen Verarmung unseres Volkes Einhalt zu gebieten. Die liberale Einstellung zu Familie und Kind ist mitschuldig daran, daß man heute bereits von einer drohenden Gefahr der Vergreisung unseres Volkes sprechen muß. Die Regierung hat die Pflicht, das Leben der Frau so revolutionär umzugestalten, daß es für das Volk wieder den höchsten nationalen Nutzen bringt. Hat die Nation wieder Mütter, die sich frei und mit Stolz zum Muttertum bekennen, dann kann sie nicht verderben.
Heute vor 90 Jahren: Der Rücktritt des Polizeipräsidenten
Die Polizei muss weiter überparteilich bleiben.
Neue Freie Presse am 18. März 1933
Dr. Brandl erleidet ein ähnliches Schicksal wie sein Vorgänger. Es war in den schönen Tagen, da es noch keine Notverordnungen gab, da die Kronjuristen das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz noch nicht in seiner ganzen Bedeutung erkannt hatten, da ein Angriff auf die Preßfreiheit nicht im entferntesten für möglich gehalten wurde. Es war die Epoche der rosigen Illusionen; aber trotzdem, wie jetzt die Präsidentenkrise, so wurde damals der Fall Strafella als Pivot benützt, wie die Militärs es ausdrücken. Die Ernennung von Strafella zum Generaldirektor der Bundesbahnen, das war plötzlich ein Heiligtum geworden, und so ging die Koalition mit den Großdeutschen in die Brüche. Dr. Schober wurde in die Opposition gedrängt, der auch der Landbund angehörte, und so brach eine Wahlschlacht aus, die durch die Fürsorge des Bundespräsidenten mit einer Rückkehr zur Verfassung geendet hat, mit der Berufung des Landeshauptmannes von Vorarlberg.
Es war im Oktober vor drei Jahren, da wurde der Vizepräsident des Polizei Dr. Pamer plötzlich zur Demission gezwungen, ohne daß man sich im geringsten mit Dr. Schober verständigt hätte, der noch immer Polizeipräsident war, wenn auch auf Urlaub. Dr. Pamer mußte dem Gebote Starhembergs gehorchen, und die Zeit schien reif für einen Umsturz, auch bei der Polizei; man konnte vermuten, es werde der Rechtskurs in seiner bedenklichen Gestaltung auch in dieser Elitetruppe, diesem besten Apparat des öffentlichen Vertrauens, sich kundgeben. Nun, diese Gefahr ging glücklich vorüber. Dafür sorgte wohl schon die Persönlichkeit des neuen Mannes, der, gebildet, in der Schule Dr. Schobers aufgewachsen, durch seine außerordentliche Klugheit vor derartigen Bocksprüungen gefeit war.
Dr. Brandl ist ein Fachmann hohen und höchsten Ranges. Einer, der von der Pike auf gedient hat und dessen Laufbahn ehrenvoll zu nennen ist durch seine organisatorischen und praktischen Arbeiten und durch den wissenschaftlichen Geist, den er ganz im Sinne Dr. Schobers in der Polizeidirektion zur Geltung brachte. Brandl hat als Delegierter auf den internationalen Kongressen von Wien, Berlin, Antwerpen, Amsterdam und Bern über allgemeine Polizeifragen Referate gehalten, er ist sogar Schöpfer einer internationalen Institution geworden, nämlich des Polizeitelegraphencode, Polcot genannt, als Verständigungsmittel der Sicherheitsbehörden von einem Land zum anderen. Zu dieser Wirksamkeit befähigte Dr. Brandl seine außerordentliche Sprachkenntnis - er beherrscht die französische, englische, italienische und spanische Sprache - ferner auch seine Qualität als Jurist, seine hervorragende Belesenheit, sein Interesse auch für sozialpolitische Gegenstände. Brandl war wiederholt bei Monarchenreisen und Monarchenbesuchen Organisator des Sicherheitsdienstes, er hat oft genug Kaiser Karl auf seinen Auslandsfahrten begleitet, und so hat es niemanden in Erstaunen gesetzt, als er nach Dr. Schober Chef der Staatspolizei, nach dem Abgang Pamers Vizepräsident, nach dem Tode Doktor Schobers Polizeipräsident geworden ist.
Nun ergibt sich für die Oeffentlichkeit die Frage, wie dieses Ereignis zu werten sei. Es ist niemals gut, beim Ueberschreiten einer Furt die Pferde zu wechseln, so lautet ein alter spruch. Auch in dem jetzigen Fall wird es sicher Bedauern erwecken, daß mitten in einer Aera heftiger Erregungen die Persönlichkeit verschwindet, die bisher unseres Wissens keinen Anlaß zu irgendwelchen Beschwerden oder Klagen geboten hat. Es ist noch gar nicht kalr, wer der Nachfolger Dr. Brandls wird, und so vermögen wir nicht zu sagen, ob die Demission nur auf gewissen Meinungsverschiedenheiten beruht, die entstanden sind infolge der Ereignisse im Parlament, infolge der Haltung Dr. Brandls bei der Ansammlung von einigen tausend Heimwehrleuten im ehemaligen Ministerium des Innern - oder ob es sich um einen Richtungswechsel handelt, der bedeutende Aenderungen hervorbringt.
Anmerkung: Franz Brandl wurde zwangspensioniert, weil er politisch nicht willfährig genug war. Vor allem weigerte er sich, sich klar auf die Seite von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu stellen. So informierte er den sozialdemokratischen Wiener Bürgermeister Karl Seitz am 15. März über eine Versammlung der Heimwehr (die auch im Artikel oben angedeutet wird). Außerdem übergab er dem Leiter des Polizeieinsatzes im Parlament, im Zuge dessen die Sitzung des Nationalrats verhindert wurde, den entsprechenden schriftlichen Befehl, den er selbst von Dollfuß verlangt hatte. Der Polizeibeamte übergab diesen Befehl dann dem dritten Nationalratspräsidenten Dr. Straffner, der aufgrund dieses Beweisstückes Strafanzeige gegen Dollfuß erstattete.
Dürfen Geheimakten öffentlich werden?
Manche wollen sich rechtfertigen, manche ihre Verantwortung nicht öffentlich wissen. Was ist der richtige Weg?
Neue Freie Presse am 17. März 2023
Ein Sturm hat sich erhoben, weil staatliche Funktionäre Berichte veröffentlicht haben, die ihnen während ihrer amtlichen Laufbahn in die Hände gerieten. Den unmittelbaren Anlaß dazu bildete die Kriegsgeschichte Winston Churchills. Dringliche Anfragen wurden im Parlament eingebracht und es wurde öffentlich verlautbart, daß das Kabinett ein aus seinen Mitgliedern bestehendes Komitee beauftragt habe, die Frage solcher Veröffentlichungen zu prüfen. Es ist übrigens reichlich spät, jetzt wegen der Veröffentlichung von Kriegsdokumenten solchen Lärm zu schlagen, denn Generale, Admirale und Minister in allen Ländern, England eingeschlossen, haben in den letzten drei Jahren die europäische und die amerikanische Oeffentlichkeit mit einer Flut von Erinnerungen, Erklärungen, Kritiken, Polemiken und Verteidigungsschriften über die Führung der Operationen während des großen Krieges wie auch während des „großen Friedens", an denen sie beteiligt waren, überschwemmt.
Land- und Seesoldaten haben ein bisher nie dagewesenes Verlangen gezeigt, die Oeffentlichkeit über ihren eigenen Anteil an den gewaltigen Siegen zu unterrichten und ihr klarzumachen, um wieviel glänzender alles ohne die Querköpfigkeit und Dummheit dieses oder jenes Mitarbeiters gewesen wäre. Wie Julius Cäsar glauben sie, daß sie nicht nur durch ihre Schlachten, sondern auch durch ihre Kommentare über diese in der Geschichte fortleben werden.
Die Staatsmänner wiederum haben das Bedürfnis gefühlt, die Verantwortung für einzelne Teile des Friedensvertrages von Versailles von sich abzuwälzen, und wenn ihnen wegen der Form, in welcher diese Teile abgefaßt worden waren, von Gegnern oder von Anhängern Vorwürfe gemacht wurden, dann waren sie eifrig bemühst den Nachweis zu erbringen, daß die Schuld an dem Druck gelegen habe, den andere Akteure in dem großen Drama auf sie ausgeübt hätten und dem sie nicht zu widerstehen vermochten. In allen diesen Fällen wurden äußerst vertrauliche Mitteilungen enthüllt, geheime Urkunden herangezogen, Kabinetts- und Kommissionsberatungen veröffentlicht ohne die geringste Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten.
Eine Enthüllung hat dabei die andere nach sich gezogen, eine Enthüllung die andere unvermeidlich gemacht. Ein General, Admiral oder Minister kritisiert auf Grund halb enthüllter Protokolle oder Urkunden einen anderen öffentlichen Funktionär des Heeres, der Marine oder des Kabinetts. Was soll nun dieser tun? Sein guter Ruf steht auf dem Spiel. Muß es ihm nicht gestattet sein, lückenhafte Mitteilungen zu ergänzen oder falsche Darlegungen zu berichtigen? Nehmen wir den Fall, daß die Handlungsweise von Ministern, die eine wichtige Rolle im Krieg und beiden Friedenskonferenzen gespielt haben, böswilligen und unaufhörlichen Entstellungen ausgesetzt ist. Gelegentlich dieser Angriffe werden Behauptungen aufgestellt, die, wenn sie die Oeffentlichkeit für wahr hält, den guten Rus jener Männer unwiederbringlich schädigen oder sogar vernichten müßten. Dabei wird irgendeine Urkunde nur teilweise angeführt oder der Bericht einer Rats- oder Kabinettssitzung wird falsch zitiert. Der Minister weiß, daß ein vollständiges und richtiges Zitat seinen guten Namen von dem Vorwurf reinwaschen kann, den man gegen ihn geschleudert hat. Soll es ihm unter diesen Umständen nicht erlaubt sein, das Dokument zu veröffentlichen? Eine bloße Ableugnung hätte keine Beweiskraft, aber die vollständige Enthüllung würde den Streit zu seinen Gunsten entscheiden.
Veröffentlichung kann auch aller Voraussicht nach kein nationales Interesse verletzen, denn sie enthielte keinerlei Mitteilung, die gegebenenfalls einem Feind des Landes dienlich wäre. Soll es da dem Angegriffenen nicht gestattet sein, das einzige Mittel anzuwenden, das ihm zur Verfügung stehst um seine Ehre vor der Schmach einer allgemein verbreiteten Verleumdung zu retten? Seinem Kritiker war es erlaubt gewesen, geheime Mitteilungen zu veröffentlichen, ohne daß sich ein Widerspruch erhob. Soll es nun ihm verboten sein, zu seiner Verteidigung das Gleiche zu tun? Warum sollte ihm sein Land dasselbe Recht zu seinem Schutz verweigern?
Das sind die Fragen, die das vom Kabinett eingesetzte Komitee zu erwägen haben wird. Welche Richtlinien immer festgelegt werden sollen, sie müssen diese außergewöhnlichen Umstände mit voller Unparteilichkeit in Rechnung ziehen. Diejenigen, die sich jetzt nicht genug tun können, die Veröffentlichung von Dokumenten, welche die Autoren auf Grund ihrer staatlichen Dienstleistung einzusehen bekommen hatten, als eine Ungeheuerlichkeit zu brandmarken, hatten nicht ein Wort verloren, als man einzelne Teile jener Urkunden zu Zwecken verwendete, die ihnen genehm waren. Ist es da nicht etwas verspätet, jetzt Einspruch zu erheben, und muß nicht auch, wo es sich um Angriffe auf Politiker handelt die Forderung nach ehrlichem Spiel erhoben werden?
In England wurde die Reihe der Memoirenwerke dieser Art von Feldmarschall Lord French von Apern mit seinem Buch „1914" eröffnet. Dieses Werk hat den Charakter einer Verteidigungsschrift und um seiner Sache zu Hilfe zu kommen, spricht der Schreiber über Unterredungen mit dem Ministerrat uns zögert nicht, die geheimen Denkschriften und Depeschen, die von ihm oder von anderen geschrieben worden waren, wörtlich zu zitieren. Der ehemalige Admiral der Flotte Lord Fisher führt in seinem Buch „Memoiren" Zitate über sein eigenes Auftreten in den Sitzungen des Obersten Rates an.
Das Ende der Demokratie in Österreich
Die Abgeordneten des Nationalrats wurden durch die Polizei an einem Zusammenkommen gehindert. Die Zeitung zitierte damals Innenminister Schuschnigg, der von einer „Selbstausschaltung“ des Parlaments sprach. Eine Bedrohung der „wirklichen Demokratie“ konnte er nicht erkennen.
Neue Freie Presse am 16. März 1933
Amtlich wird gemeldet: Nachdem Abgeordneter Doktor Straffner trotz des an ihn gerichteten Appells des Bundespräsidenten, seinen Schritt, den österreichischen Nationalrat zu einer Sitzung einzuberufen, nicht zurückzog, hat die Regierung angesichts der Ungesetzlichkeit dieses Vorgehens die Sicherheitsbehörde angewiesen, diesen selbst nach dem Versammlungsgesetz derzeit unzulässigen Zusammentritt einer Minderheit von Abgeordneten hintanzuhalten. Eine Reihe von Kriminalbeamten war daher im Parlament erschienen, um einerseits die entsprechende Mitteilung über die Nichtzulässigkeit einer solchen Versammlung zu machen und andererseits den Zusammentritt unwirksam zu gestalten. Kurz nach 14 Uhr hatte sich eine Anzahl sozialdemokratischer und großdeutscher Abgeordneter eingefunden.
Später ankommende Abgeordnete dieser Parteien wurden auf die Unzulässigkeit der Abhaltung einer Sitzung hingewiesen. Unter den im Saal anwesenden Abgeordneten befand sich auch Abgeordneter Dr. Straffner, der jedoch nicht den Präsidentenstuhl einnahm, sondern vom Rednerpult aus den Schluß der Sitzung erklärte. Da nach der von dem Abgeordneten Dr. Straffner ausgegebenen Einladung die Versammlung erst für 15 Uhr einberufen war, die Schließungserklärung des Abgeordneten Straffner jedoch bereits vor 14.40 Uhr erfolgte, steht außer Zweifel, daß die beabsichtigte Versammlung überhaupt nicht stattfand, vielmehr das Vorgehen des Abgeordneten Straffner sich lediglich als Absage der von ihm beabsichtigten Versammlung darstellt. Das von der Polizeibehörde noch vor 15 Uhr ausgesprochene ausdrückliche Verbot ist daher bereits gegenstandslos geworden. Es kam zu keinerlei Zwischenfällen. Es herrscht vollkommene Ruhe.
Innenminister Dr. Schuschnigg sprach im Rundfunk über "Oesterreichs Weg in Gegenwart und Zukunft". Er führte unter anderem aus: