Kulturpsychologie

Gesellschaftliche Tabus unter die Leute bringen

Was bleibt in unserer Gesellschaft unausgesprochen, was anderswo? Und wie kann es durch Kunst gelingen, an den Rand gedrängte Themen und Menschen dort sichtbar zu machen, wo sie sonst nicht präsent sind? Ein künstlerisches Forschungsprojekt gibt Antworten.

Vier Wochen – so viel Zeit ist seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in Polizeigewahrsam vergangen. Vier Wochen, in denen sich immer mehr vor allem junge Menschen im Iran den Protesten gegen das totalitäre Regime anschließen. Besonders in den sozialen Netzwerken wird seither auch für Außenstehende die furchtbare Brutalität dieses Systems sichtbar.

Dabei ist Unsichtbarkeit eine Spezialität der iranischen Machthaber: Sie drängen nicht nur Frauen, sondern ebenso Ideen und Gedanken an den Rand. Wie Diskriminierung auch Kreativität verhindert und bestimmte Künstlerinnen und Künstler ausgrenzt, damit setzte sich die iranische Kuratorin Mana Mira vom College of Fine Arts der Universität Teheran auf Einladung der österreichischen Kulturpsychologin und Künstlerin Katrin Ackerl Konstantin auseinander. „Mapping the Unseen“ lautet der Titel dieses 2019 gestarteten Projekts, also Kartierung des Unsichtbaren. „Diskriminierung wirkt wie eine unsichtbare Kette, die allgegenwärtig ist“, sagt Mana Mira. Sie wirke damit massiv auf die künstlerische Freiheit ein.

Die iranischen Werke in dem Projekt mussten anonym bleiben.
Die iranischen Werke in dem Projekt mussten anonym bleiben.Sahar/Mapping the Unseen

Projektleiterin Ackerl Konstantin forscht bereits seit zehn Jahren zu gesellschaftlichen Tabus – und dazu, wie sie öffentlich thematisiert werden können. Ein von ihr in diesem Zusammenhang mitentwickeltes Konzept ist jenes der „schau.Räume“. Dabei werden leer stehende, idealerweise von außen einsichtige Geschäftsräume genutzt, um totgeschwiegene soziale Themen abseits etablierter Kulturbetriebe in Szene zu setzen. Das mit Mitteln von Wissenschaftsfonds FWF und Land Kärnten finanzierte und an der Uni Klagenfurt angesiedelte Projekt „Mapping the Unseen“ ist quasi eine globalisierte Variante davon.

Was wir unbewusst vermeiden

Neben dem Iran mit dem Schwerpunkt Diskriminierung und Zensur waren Bangladesch mit Arbeiten zu Migration und Flucht sowie Kroatien mit Beiträgen zu LGTBIQ vertreten. „Auf die künstlerischen Interventionen vor Ort folgte eine Einladung nach Österreich, wo hiesige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler sowie NGOs regionale Beiträge ergänzten“, erklärt Ackerl Konstantin, die mittlerweile an der Uni Salzburg forscht. „Die Idee war, über den interkulturellen Austausch einen transkulturellen Raum zu eröffnen.“ Sie analysierte parallel dazu den Umgang mit den jeweils fokussierten Tabus und den unausgesprochenen Regeln der kulturellen Vermeidung, ausgehend von teilnehmenden Beobachtungen, Interviews, Auto-Ethnografie und Biografie-Workshops mit tiefenhermeneutischen Methoden. Ziel dieser war es, zugrunde liegende Bedeutungen von gesellschaftlichen Lebenspraxen und psychosozialen Erfahrungen zu rekonstruieren.

Eine virtuelle Ausstellung, in der die Werke, Videos, Dokumentationen zu Workshops und Performances sowie Texte erst durch die Cursor-Bewegung nach und nach entdeckt werden können, ergänzen das Projekt. Im Iran war das essenziell: Hier konnte die Schau nur im Geheimen, in einer Privatwohnung in Teheran, gezeigt werden.

Die Ergebnisse von „Mapping the Unseen“ sind Teil der aktuell laufenden, vom Europarat – anlässlich des 70. Jahrestages der Menschenrechtskonvention – lancierten digitalen Ausstellung „Free to Create – Create To be Free“. Sie verdeutlichen, wie durch Partizipation – insgesamt beteiligten sich rund 500 Menschen – und performative Interventionen, also künstlerische Darbietungen im (halb) öffentlichen Raum, die Aufmerksamkeit erregen, tabuisierte Themen sichtbar gemacht werden.

Web: www.virtual.mappingtheunseen.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2022)

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