Nur eine weitere Meldung in der Nachrichtenflut: Wohnhaus mit Bombenschaden in Mykolaiv, Ukraine.
Europäische Literaturtage

Jeden Tag gibt es weniger Ukrainer

Manche Menschen interessieren sich nicht für die Folterkammern, die man in den befreiten Gebieten gefunden hat, sondern wollen lieber darüber reden, wieso die russische Literatur in ukrainischen Schulen neuerdings keinen privilegierten Status mehr hat. Sie halten das für eine Diskriminierung.

Meine Tochter hatte vor Kurzem einen Traum, in dem sie mit ihrer Großmutter in Lwiw lebte. Eines Abends kamen zwei russische Soldaten zu ihnen nach Hause. Einer befahl ihnen, die Wohnung zu verlassen, der andere erlaubte ihnen, noch eine Nacht zu bleiben. Dann sah meine Tochter, dass ihr Handy-Akku fast leer war, und fragte, ob sie ihr Telefon aufladen dürfe. Unwillig nickte der Russe. „Was für ein guter Mensch, er hat es mir erlaubt“, dachte meine Tochter im Traum.

Seit Mitte März lebe ich mit meinen Kindern in Deutschland. Was die Geografie und physische Sicherheit betrifft, ist das fernes Hinterland, was die Ideologie und Informationsarbeit betrifft, ist es die vorderste Front. Ich verwende absichtlich militärische Metaphern, die im deutschen Kontext unangebracht sind, denn ihre Inadäquatheit ist ebenso illusorisch wie die hartnäckige Überzeugung vieler hiesiger Bürger, dass die militärische Bedrohung nie zu einer deutschen Realität werden, sondern immer nur eine Meldung in der Nachrichtenflut bleiben wird, weit an der Peripherie. Immer seltener fragen Bekannte und Fremde, wie die Lage an der Front sei, und immer öfter wundern sie sich, warum wir diesen Sommer nicht auf Urlaub gefahren sind. Immer öfter sagen sie, wie gut es nicht sei, aus der täglichen Routine auszubrechen und weit weg zu gehen, um dort ein neues Leben zu beginnen, neue Erfahrungen zu sammeln. Das sei eine überaus wichtige Erfahrung. Ich antworte, dass die Erfahrung tatsächlich interessant sei, und bald wären es vielleicht nicht nur die Ukrainer, die sie machen müssten. Daraufhin besinnen sich die Bekannten und auch die Fremden, entschuldigen sich für die Unangebrachtheit ihrer Worte und wechseln zu einem neutralen Thema. Sie müssen sich nicht entschuldigen, sie sind nicht schuld an den aktuellen Ereignissen, sie führen ihr normales Leben weiter, sehen darin nur Negatives und leidige Routinen, sie haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass jemand in diesem Augenblick von so einem gewöhnlichen Leben träumt, voll von Routinen und ohne täglichen Heroismus. Ein Leben, das eine Zukunft hat. Auch wir hatten irgendwann so ein Leben. Aber es ist plötzlich zu Ende gegangen, und jetzt denkt niemand mehr an die Zukunft, macht niemand mehr weitreichende Pläne. Der Planungshorizont hat sich einerseits fürchterlich eingeengt: den Tag überleben, bis zum Ende des Jahres kommen. Andererseits hat er sich ins Unbestimmte erweitert: das Ende des Krieges erleben, Pläne für die Zeit nach dem Krieg machen. Besonders schmerzhaft ist das im Kontext von Familien, die durch den Krieg auseinandergerissen wurden. „Nach dem Krieg gehen wir zusammen essen“, sagt mir mein Mann von Zeit zu Zeit, und es klingt so, als sei es greifbar, als müssten wir nur einen Tisch reservieren, und schon sei es so weit. Aber es fühlt sich so an, als würde es nie stattfinden.

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