Wort der Woche

Globalgeschichte löst eurozentrische Geschichtsschreibung ab

Die Globalgeschichte löst eine eurozentrische Geschichtsschreibung mehr und mehr ab. Dies kann in vielen neuen – durchaus schenkenswerten – Büchern nachvollzogen werden.

In weiten Teilen der Geschichtswissenschaften wird es zusehends zum Standard, den traditionellen eurozentrischen Standpunkt zu verlassen und eine globalhistorische Sichtweise einzunehmen – bzw. dies zumindest zu versuchen. Nun gibt es erstmals auch einen Geschichtsatlas, der diesen Perspektivenwechsel nachvollzieht: „Die Geschichte der Welt“, herausgegeben vom französischen Historiker Christian Grataloup (640 S., C.H. Beck, 41,10 €), versammelt neben Darstellungen der europäischen Geschichte auch unzählige Karten zu Entwicklungen in Südostasien, Lateinamerika oder Afrika, ebenso zur Entstehung Kanadas, der Geschichte des Zuckerhandels oder zu europäischen Straflagern in aller Welt.

Ein relativ blinder Fleck der Globalgeschichte ist indes noch die Ideengeschichte – was auch daran liegt, dass eine über Europa hinausgehende Betrachtung fundierte Kenntnisse unterschiedlichster Kulturen erfordert. Um mit dieser Schwierigkeit zurande zu kommen, hat der britische Historiker James Poskett einen klar abgegrenzten Bereich gewählt: die Wissenschaft. Er argumentiert in „Neue Horizonte“ (584 S., Piper, 28,80 €), dass Wissenschaft keine ausschließlich europäische „Erfindung“ sei, sondern stets vom globalen Austausch zwischen Gelehrten geprägt war. Er belegt dies insbesondere mit Lebensgeschichten von Forschern.

In weitere Gebiete der Ideengeschichte dringt nun der deutsche Historiker Martin Mulsow vor: In „Überreichweiten“ (717 S., Suhrkamp, 44,50 €) berichtet er in acht mikrohistorischen Fallstudien aus der Frühen Neuzeit etwa über die wechselseitige Befruchtung alchemistischer Traditionen in Europa, Indien und Persien, über den Einfluss Chinas auf die europäische Aufklärung oder über die Geschichte des Teufels im iberisch dominierten Südamerika. Dabei wird sehr deutlich, wie stark globale Bezüge auch Europa geprägt haben – und wie begierig Europäer fremde Ideen aufgesogen haben.

Dies zeigt, dass das bis heute weitverbreitete Gefühl vieler Europäer, dem Rest der Welt überlegen zu sein, einfach nicht stimmt. Einen Beweis dafür liefert auch der deutsche Historiker Simon Karstens in seinem neuen Buch „Untergegangene Kolonialreiche“ (291 S., Böhlau, 41 €): Anhand von zwölf gescheiterten Kolonisierungsvorhaben in Amerika zeigt er, dass die indigenen Völker durchaus imstande waren, den neu ankommenden Europäern Paroli zu bieten und diese sogar für ihre Zwecke einzuspannen. Zumindest eine Zeit lang.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2022)

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