Dass 66 Jahre nach Ende des Nazi-Regimes vergessene Gräber und damit Hinweise auf organisiertes Verbrechen durch Spitalsärzte in der NS-Zeit auftauchen, ist nicht so verwunderlich, wie es klingt. Nach 1945 hatte kaum jemand in Politik, Unis und Spitälern wie jenem in Hall in Tirol Interesse, die staatlich angeordneten oder gedeckten Morde aufzuklären. Zu viele Täter waren noch in verantwortungsvollen Positionen. Die wenigsten wurden übrigens belangt.
Dass Tirols Landeshauptmann Günther Platter nach Entdeckung des Gräberfeldes die Einsetzung einer Historikerkommission und keine Rücksicht auf die Spitalsleitung vor und nach 1945 verspricht, zeigt, wie sich der Umgang des offiziellen Österreich mit dem Thema verbessert hat. In ersten Meldungen war von 220 Euthanasie-Opfern die Rede, Historiker meinen, dass es weniger waren, die dem organisierten und später „wilden“ Morden mit dem absurden naturwissenschaftlichen Unterbau zum Opfer gefallen sein könnten. Genau dies ist bei Hall nun wichtig: eine seriöse, unaufgeregte Untersuchung.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2011)