Onkel Franz sorgte dafür, dass jeden Abend Braten, Spargel und Eis mit Schlagobers serviert wurden und „Stille Nacht“ gesungen wurde.
Spectrum

Weihnachtserzählung von Josef Winkler: Und der aufziehbare Engel flüsterte „Frieden“

Josef Winkler hat für die Weihnachtsausgabe des „Spectrum“ Heinrich Bölls Geschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ neu erzählt: Es war Februar, das Lametta glitzerte zwischen den Ästen, die Kerzen brannten, und die Tante Milla hatte endlich wieder Appetit.

Die ganze Verwandtschaft, heißt es in der Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll, sollte wegen unvorhersehbarer Ereignisse vor dem Zusammenbruch und vor der Auflösung stehen. Nur die immerzu lächelnde und heitere Tante Milla, die eine besondere Vorliebe für das Aufputzen des Weihnachtsbaumes hatte, erfreute sich bester Gesundheit und schmückte auch bei Kriegsausbruch im Jahre 1939 den Tannenbaum mit Zuckerkringel, Engelshaar, Marzipanfiguren, Kerzen und Lametta. Auf die zitternden Äste heftete sie gläserne Zwerge, die Korkhämmer in ihren hocherhobenen Armen hielten und zu deren Füßen glockenförmige Ambosse hingen. Wenn unter den Fußsohlen der Zwerge die Kerzen länger brannten und es heiß wurde, schlugen die gläsernen Arme der Glaszwerge mit ihren Korkhämmern bimmelnd auf die Ambosse. An der Spitze des Christbaumes thronte ein aufziehbarer, silbrig verkleideter, rotbackiger, mit einer rotierenden Schallplatte versehener Engel, der „Frieden! Frieden! Frieden!“ flüsterte.

Die Bombe fiel, der Baum schwankte

Die als schön und liebenswert beschriebene Tante Milla, die großen Wert auf eine ganz besonders schöne Ausschmückung des Christbaumes legte, nervte mit ihren Ansprüchen die ganze Familie. Nach der Bescherung hatte kaum noch jemand großen Appetit auf den Braten, den Spargel und aufs Eis mit Schlagobers. Sie wurde nervös und hysterisch, wenn durch die Erschütterungen einer fallenden Bombe der Weihnachtsbaum schwankte, ein paar Glaszwerge von den Ästen fielen und der „Frieden!“ flüsternde Engel seine Stimme verlor. Nach verzweifelten Streitgesprächen und ebenso verzweifelten Beschwichtigungen, und nachdem bei mehreren Familienmitgliedern Tränen geflossen waren, erklärte sich die Tante Milla damit einverstanden, dass man während des Krieges auf einen geschmückten Weihnachtsbaum verzichten könne.
Nach dem Krieg wurde der Weihnachtsbaum wieder aufgestellt, denn es sollte, wie es in der Erzählung „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ von Heinrich Böll heißt, alles so sein wie früher. Es war schwer, im Jahre 1945 Speck und Butter zu bekommen, obwohl der Sohn der Tante Milla, der großzügige Onkel Franz, ein erfolgreicher Lebensmittelhändler war und vor dem Krieg in tropischen Ländern Mandarinen, Orangen, Zitronen und Datteln hatte kaufen können, dem es aber trotz seines Geschicks nicht möglich war, in der unmittelbaren Nachkriegszeit für den Christbaum Marzipanfiguren, Kerzen und Schokoladekringel zu beschaffen.
Erst 1947 kehrte wieder Normalität ein. Draußen war es außerordentlich kalt, aber im Heim der Tante Milla war es warm und gemütlich, es gab auch wieder genug Lebensmittel. Als am Christtag die elektrischen Lichter im Wohnzimmer gelöscht und die Kerzen angezündet wurden und es ringsum warm wurde, schlugen die Zwerge wieder mit ihren Korkhämmern bimmelnd auf die Ambosse, und der Engel flüsterte: „Frieden! Frieden! Frieden!“ Auf Betreiben der Tante Milla fand aber die Weihnachtsfeier auch Tage und Wochen nach dem Christtag statt. Abend für Abend wurde im Wohnzimmer „Holder Knabe im lockigen Haar“ gesungen, niemand wagte zu widersprechen.

Als zu Mariä Lichtmess die Enkelkinder im Haus der Tante Milla die noch verbliebenen Süßigkeiten von den Zweigen naschten, die Zwerge aus den Klammern gelöst, der Engel von der Baumspitze genommen wurde, begann Tante Milla lauthals zu schreien. Der den Christbaum abschmückende Johannes stieß beim Aufkreischen der Tante so ungeschickt an die schwankende Tanne, dass die Glaszwerge und der „Frieden!“ flüsternde Engel zu Boden fielen und zerschellten, das heiße Wachs der brennenden Kerzen durch die Gegend spritzte. Tante Milla, die sich nicht mehr beruhigen ließ, schrie nach diesem Missgeschick eine ganze Woche lang.

Ärzte wurden geholt, Taxitüren flogen, Neurologen und Psychiater kamen, aber alle Fachleute verließen achselzuckend das Haus, sogar einen Exorzisten wollte man einschalten. Tante Milla schrie weiter und ununterbrochen aus Leibeskräften, auch der Litaneien murmelnde und mit Rosenkranz und Weihrauchfass herumfuchtelnde Priester konnte nicht helfen, erst eine heftige Dosis Luminal beruhigte sie für ein paar Stunden. Sie verweigerte das Essen, sprach kein Wort, schlief nicht, es nützten keine Fuß- und Wechselbäder, die Ärzte blätterten ratlos in Gesundheitsbüchern. Sie schrie so lange, bis ihr herzensguter Sohn Franz auf die glorreiche Idee kam, auch außerhalb der Weihnachtszeit einen Christbaum aufzustellen.

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