Reise

Timişoara oder: "Wiens kleine Schwester"

Es tut sich mehr als je zuvor im westrumänischen Timişoara, „Wiens kleiner Schwester“ – Impressionen aus einer Europäischen Kulturhauptstadt 2023.

Dominic Fritz sitzt im Rathaus Timişoaras. Der smarte 40-jährige Süddeutsche hat nicht etwa seinen Pass verloren oder sucht sonst wie bei den Behörden nach Hilfe, vielmehr ist er der Bürgermeister; bei Lokal- und Europawahlen dürfen EU-Bürger mit offiziellem Wohnsitz nicht nur wählen, sondern auch selbst kandidieren. Auf die Frage nach den Gründen für seine Kandidatur (2020) lächelt er: „Ich war der Überzeugung, dass der Amtsinhaber das Amt schlecht ausfüllt, ich dachte, das kann ich besser. Die Ressourcen zusammenzubringen – zu einer durchlässigen, offenen, transparenten Verwaltung.“

Erstmals kam Fritz im Rahmen seines Freiwilligen Sozialen Jahres in ein Kinderheim (2003) und war fasziniert von der reizvoll-morbiden Stadt. Während des Studiums kehrte der Cello- und Klavierspieler regelmäßig für Musikprojekte zurück, politische Erfahrung sammelte er für die Grünen im Frankfurter Raum und als Büroleiter des Altpräsidenten Köhler in Berlin. „2017 beteiligte ich mich an den Timişoarer Antikorruptionsprotesten“, erzählt er. Und heute steht der Mann mit einer der interessantesten politischen Karrieren des modernen Europas jener westrumänischen Großstadt (320.000 Einwohner) vor, die 1884 als zweite der Welt nach New York elektrische Straßenbeleuchtung einführte.

Stilhybrid: die Kathe­drale der Heiligen drei Hierarchen.
Stilhybrid: die Kathe­drale der Heiligen drei Hierarchen.Laura Ghise/Unsplash

Die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt habe zu den von ihm vorgefundenen Tatsachen gehört. „Es gab schon auch Phasen, wo es in die falsche Richtung lief, weil so ein Titel zu enormem Erwartungsdruck führt, zu Verteilungskämpfen in der Finanzierung.“ Manche würden sagen, der Titel Kulturhauptstadt sei anachronistisch. „Das muss man immer wieder neu diskutieren. Es war ursprünglich eine geniale Idee, einen Scheinwerfer auf Städte zu richten. Kultur kann zwar immer Relevantes über die Zeit sagen. Die Hauptmission ist jedoch, den Titel zu nutzen für langfristige transformative Änderungen. Wenn die Feuerwerke verpufft sind und die Konfetti aufgekehrt, könnte es ja sein, dass man die Chance verpasst hat.“

Unechte Schwaben

Vor 100 Jahren hätte man in der drittgrößten Stadt Rumäniens – mit ihrem Altstadtensemble aus 14.000 Gebäuden, viele hellrot, mattgelb und pistazienfarben, trägt sie den Ehrentitel „die kleine Schwester Wiens“ – an jeder Ecke Deutsch gehört. Etwa 70.000 Menschen lebten in der Stadt von Johnny Weissmüller (Tarzan-Darsteller) und Bela Lugosi (Dracula-Darsteller), ein Drittel davon Ungarn, die Hälfte der Bewohner jedoch aus der Gruppe der Donau- oder Banater Schwaben.

Die wenigsten von ihnen waren reale Schwaben. Die Wiener Hofpolitik hatte nach den Türkenbelagerungen und der Entvölkerung im 17. Jahrhundert mit Ansiedlungen reagiert, ihre Mehrheit stammte aus süddeutschem Bauernmilieu, viele Leute waren auch innerhalb der Monarchie strafversetzt worden, verpflichtet, im Notfall gegen die Osmanen zu kämpfen.

»Im Programm: Nobel-Literatur, Jazzfestival, Brâncuși-Schau.«

Kurios an den sogenannten Zeitläufen sollte sein, dass Timişoara zu den raren Städten gehört, die im Zweiten Weltkrieg sowohl von den Alliierten als auch (nach dem Ende der rechtsextremen Antonescu-Diktatur 1944) von den Deutschen bombardiert wurden – die Anzahl der Todesopfer hielt sich in Grenzen, freilich ging der Bahnhof kaputt. Durch den Zweiten Weltkrieg verlor die Ethnie, die ihre Stadt gern „Temeschburg“ nannte, massiv an Einfluss, seit der Wende zur Demokratie sind nur mehr zwei Prozent Deutschsprachige ansässig, etwas mehr noch als Serben (Belgrad ist ja deutlich näher als Bukarest) und nicht zu vergleichen mit der ungarischen Gruppe, zu der sich immer noch acht Prozent bekennen.

Brauerei als Hoflieferant. Timişoara, Temesvár, Temeswar gilt als die wirtschaftlich erfolgreichste Stadt Rumäniens. Die Wahl zur Kulturhauptstadt 2023 soll daraus einen Boom machen. Eigentlich war die Aktion für 2021 geplant, die Pandemie verschob das Projekt um zwei Jahre. Wer nun glaubt, dass durch diesen Zeitgewinn sämtliche Infrastrukturprojekte fertiggestellt wären, irrt. Eine Kulturhauptstadt ohne Verspätungen ist wohl undenkbar, trotzdem wird zwischen 17. und 19. Februar feierlich alles eröffnet, was offen sein kann.

Der Bega-Kanal, angelegt 1727–33 von den Habsburgern, um via Theiß und Donau Waren nach Wien zu schaffen, wird schon länger revitalisiert. Der Kanal führt von der Innen- in die Arbeiter- und Fabrikstadt, wo seit Jahrzehnten nichts investiert wurde – diese Art der Unterentwicklung ist unromantisch, jeder Gentrifizierungsansatz 2023 willkommen. Auch soll verfallene Industriearchitektur neu interpretiert werden, alle fünf historischen Kinosäle werden für kulturelle Nachnutzung reaktiviert.

»Timişoara gilt als die wirtschaftlich erfolgreichste Stadt Rumäniens. «

Hoffnung auf ein erfolgreiches Geschäftsjahr macht sich die Brauerei Timişoreana im Cartierul Fabric, der Fa­­brikstadt mit ihren Schloten und Manufakturen sowie den heruntergekommenen Villen um die Piaţa Traian. Die erste, heute denkmalgeschützte Brauerei Rumäniens (1718) kann mehr als zwei Millionen Hektoliter pro Jahr produzieren. Die Biermarke wurde vom rumänischen Hohenzollernkönig Ferdinand I. (1865–1927) zum Hoflieferanten erhoben, erhielt Anschluss an das Tramnetz und lieferte mit Bierwaggon-Straßenbahnen aus.

Der älteste Ort ist die Piaţa Unirii mit barocker Pestsäule, serbischer Kathedrale, der Casa Brück, einem Jugendstilgebäude mit ebensolcher Apotheke, einem Dom und dem Kunstmuseum in einem Barockpalais, in dem eine Paul-Neagu-Retrospektive zu sehen ist, ein ins UK emi­grierter Zeichner, Bildhauer und Performance-Künstler (1938–2004), der die Skulptur „Crucificarea“ (Kreuzigung) auf der Piaţa Victoriei herstellte.

Vorbildliche Harmonie

Timişoara, wo Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller zur Schule ging, will mit Orhan Pamuk und Olga Tokarczuk zwei weitere Nobelprämierte Schreibende einladen. Auch ein Jazz-Festival soll Maßstäbe setzen. „Aber wenn ich 2023 nur eine einzige Veranstaltung besuchen könnte“, sagt Ovidiu Megan, Ex-Vizerektor der Universität und Leiter des Vereins, der die Ausschreibung gewann, „wäre das die Constantin-Brâncuși-Ausstellung. Die Werke unseres wichtigsten heimischen Künstlers (1876–1957) sind ja sonst verstreut, im Centre Pompidou, dem Guggenheim Museum, der Tate Gallery.“

Ovidiu Megan will das Hauptstadtjahr nützen, um die integrative Vielvölkerstadt zu promoten, „zumindest viersprachig und in vorbildlicher Harmonie, ein Vorbild für ganz Europa“, und nicht zuletzt zum Aufbau von Kultur-Infrastruktur. Jetzt setzt er unter anderem auf finanziell niederschwelligen Zugang zu den meisten Events und steuerfreie Tickets für investierende Firmen.
Der Slogan der Kulturhauptstadt lautet „Shine your light“. Megan rief das jährliche „Flight Festival“ ins Leben, das 2023 total abheben soll – mit Musik, Kunst und Technologie. „Mehr als tausend Events sind geplant“, erklärt er, „viele davon mit Grammy-Nominierten. Und unser Multi­plexity-Center ähnelt dem der Linzer Ars Electronica.“

Der älteste Ort ist die Piaţa Unirii  (Domplatz) mit barocker Pestsäule. Viel wird sukzessive für den Kulturgebrauch adaptiert.
Der älteste Ort ist die Piaţa Unirii (Domplatz) mit barocker Pestsäule. Viel wird sukzessive für den Kulturgebrauch adaptiert.Alisa Anton/Unsplash


Heute steht in Timişoara die „Tosca“ auf dem Programm. „I find des sehr guad, wannst es wissen wüst“, sagt ein weißhaariger Österreicher mit knallgrüner Strickjacke in der Pause zu seiner Partnerin oder Tochter, „daher weigere ich mich, frühzeitig zu gehen!“ Ein Freak, ein Experte, ein neureicher Clown? Das Nationaltheater und Opernhaus, einst nach dem Kaiser benannt, ist ein seltsames Hybridgebäude, 1871–75 von den Stararchitekten Fellner & Helmer errichtet, mehrmals teilweise abgebrannt, in Teilen erneuert. Bis zu den Logenvorhängen gleicht die innere Ausgestaltung jener eines österreichischen Staatstheaters.

Große Augen hätten die ehrwürdigen Architekten über die Frontfassade (1934–36) gemacht, triumphbogenhaft, in gleichsam faschistischem Stil, die heute das Gesicht der Piaţa Victoriei prägt. Der schönste Punkt des Platzes ist zweifellos der Opernbalkon, weil man nur von dort aus die Front der Oper nicht sieht. Allerdings sieht man hier McDonald’s, dort das Restaurant Lloyd in einem Gebäude (1912), dessen Fundament aus Steinen der eingerissenen Stadtmauer errichtet ist. Bis 1926 hieß es Café Wien, später Grand Lloyd Café, in kommunistischer Zeit Bulevard Restaurant. Egon Erwin Kisch saß gern hier. Am 16. Dezember 1989 flog vor seinen Fenstern der Zündfunke zur Rumänischen Revolution, die zu Sturz und Hinrichtung Nicolae Ceauşescus (1918–1989) führte.

Ikonen und Hybride

Den einstigen Korso entlang, auf der anderen Seite der Piaţa Victoriei, steht das ikonischste Bauwerk der Stadt, überraschend jung, in neobyzantinischem Stil, die Catedrala Ortodoxă oder Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen (1936–40), auch sie ein Hybrid. Die Kuppeln fehlen auf Kosten von Türmen. Innen goldene Ikonenwände, Deckenfresken und ein Mosaikfußboden, keine Bestuhlung, das gewöhnungsbedürftige Küssen der Ikonen durch die rumänisch-orthodoxen Gläubigen, der Kerzenverkauf durch ehrwürdige Schwestern und wunderschön tiefe Männerchöre, durch Lautsprecher nach außen bis an die Ufer der Bega getragen. Dort prangt ein Graffito: „May your way home be as beautiful as you are!“

("Die Presse Schaufenster" vom 10.02.2023)

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