Gastbeitrag

Sicherheitspolitik in der Ära der Grauzonen

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Angesichts der Bedrohungslage stellt sich die Frage, ob die Neutralität immer noch den österreichischen Sicherheitsinteressen dient.

Russlands konventioneller Militärangriff auf die Ukraine Ende Februar 2022 führte zu einer grundlegenden Eskalation der russischen Bemühungen, liberale demokratische Institutionen in Mittel- und Osteuropa zu untergraben. Es wäre jedoch ein Fehler, die Analyse des Sicherheitsumfelds nur auf die militärischen Aspekte von Bedrohungen zu verengen. Der globale Konflikt zwischen liberalen Demokratien und autoritären Regimen findet in einem Sicherheitsumfeld statt, das von Grauzonen geprägt ist, die auf verschiedene Weise die traditionellen Unterscheidungen zwischen dem Bereich des Militärs und dem Bereich gewöhnlicher politischer und wirtschaftlicher Handlungen verwischen. Angesichts der Bedrohungslage stellt sich die Frage, ob die Neutralität immer noch dem Zweck der Förderung von österreichischen Sicherheitsinteressen dient.

Der Autor

Prof. Dr. Jozef Bátora (*1976) ist Professor für internationale Politik an der Webster Vienna Private University in Wien und Comenius Universität in Bratislava.

Was sind diese Grauzonen?

Zusätzlich zu militärischen Operationen versuchen autoritäre Regime wie China und Russland, liberale Demokratien zu untergraben, indem sie sogenannte Grauzonen ausbauen und anwenden. Es ist ein Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Instrumente, die die rote Linie der vollen Kriegsaktivität nicht überschreiten. Obwohl das Ziel letztlich die strategische militärische Dominanz über den Gegner – über liberale Demokratien – ist, gilt es, eine direkte militärische Konfrontation zu vermeiden, da dies wirtschaftliche Nachteile bedeuten würde und der autoritäre Staat den Kürzeren ziehen könnte. Grauzonen bedeuten den Einsatz von zivilen, wirtschaftlichen, medialen, Cyber- und anderen Kommunikationsinstrumenten, um die strategische Position des Gegners schrittweise zu untergraben. Das Konzept der Grauzone unterscheidet sich auch von der sogenannten hybriden Kriegsführung oder von hybriden Bedrohungen. Diese betonen nämlich individuelle Bedrohungen, einzelne Akteure und deren strategisch ausgerichtete Aktivitäten, etwa in Form von gezielter Desinformation oder Unterstützung von Bewegungen mit undemokratischer Agenda.

Die Grauzone hingegen umfasst das gesamte Spektrum an Aktivitäten, von denen viele weder einen militärischen oder nachrichtendienstlichen Charakter noch einen gezielten Desinformationscharakter haben, sondern in den Bereichen normaler wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Beziehungen angesiedelt sind. Charakteristische Merkmale sind die Mehrdeutigkeit der Aktivitäten und der skrupellose Missbrauch von Transparenz und anderen Grundprinzipien liberaler Demokratien, gerade mit dem Ziel, das liberaldemokratische System zu untergraben. Beispielsweise sind Investitionen in die Industrie oder in die Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur nur schwer als eindeutig problematisch einzustufen, da sie Arbeitsplätze schaffen und zu Wirtschaftswachstum sowie wirtschaftlichem Austausch beitragen, weswegen ihnen liberale Demokratien nur schwer widerstehen können. Es ist schwierig, Gegenmaßnahmen gegen solche Grauzonen zu ergreifen, da sie eben nicht direkt vom Militär oder anderen staatlichen Stellen durchgeführt werden. Vielmehr handelt es sich um private Unternehmen, Medienhäuser oder möglicherweise diverse Bürgervereinigungen, die versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass sie Menschenrechte und Freiheiten verteidigen (und doch ist das Gegenteil der Fall).

Private Militärunternehmen

Ein Beispiel für die Entwicklung der Grauzonen ist die rasante Entwicklung der Industrie, die private Militär- und Sicherheitsdienstleistungen anbietet. Heute ist die Ukraine nur eines von vielen Schlachtfeldern, auf denen private Militärunternehmen, oft im Auftrag autoritärer Mächte (z. B. der russischen Wagner-Gruppe) und ohne demokratische oder sonstige Rechenschaftspflicht, Kampfhandlungen (einschließlich krimineller Handlungen gegen die Zivilbevölkerung) durchführen. Dies hat auch direkte Auswirkungen auf den Machtkampf, bei dem die Regierungen liberaler Demokratien wiederum oft den Kürzeren ziehen, denn auch wenn sie sich privater Militärunternehmen bedienen, unterliegen diese mittlerweile relativ strengen Regulierungen und diversen Mechanismen der parlamentarischen Kontrolle. Das wirkt sich auch auf den geopolitischen Wettbewerb um Einfluss in der Welt aus. So musste die EU erst kürzlich ihre jahrelange Militärmission in Mali beenden, nachdem die dortige Militärjunta beschlossen hatte, die Wagner-Gruppe mit dem Kampf gegen islamistische Fundamentalisten zu beauftragen. Dass dieses private Militärunternehmen diesen Kampf unter völliger Missachtung der Menschenwürde und der Menschenrechte der lokalen Bevölkerung führt, stellt für die EU-Mission ein großes Problem dar. Parallel zu diesen Aktivitäten russischer privater Militärunternehmen reiste der russische Außenminister Lawrow in den Sommermonaten 2022 durch afrikanische Länder und beschimpfte öffentlich das Vorgehen der EU in Afrika durch die Verbreitung von Narrativen über die angeblichen Bemühungen des Westens um die Weltherrschaft. Tatsache ist, dass die autokratischen Regime afrikanischer Länder zunehmend Aufträge an russische und chinesische Konzerne vergeben haben, die Waffen liefern, rücksichtslos Bodenschätze abbauen oder strategische Infrastrukturen aufbauen, die ihnen Vorteile für die weitere wirtschaftliche und politische Expansion verschaffen.

Die Neutralitätsbedrohung

Die Neutralität war einige Jahrzehnte – vor allem während der bipolaren ideologischen Konfrontation zwischen dem liberaldemokratischen Westen und dem kommunistischen Osten – eine geeignete Basis für die Wahrnehmung der Sicherheitsinteressen von Österreich. Allerdings ist es angesichts der oben beschriebenen Sicherheitsphänomene, die heute die Bedrohungslage in Mitteleuropa und weltweit beeinflussen, angebracht zu fragen, ob die Neutralität immer noch dem Zweck, die Sicherheit des Landes zu gewährleisten, angemessen ist. Wenn man sich die Mechanismen der Einflussnahme durch Grauzonen anschaut bzw. wenn man hybride Bedrohungen, die als Kombinationen von politischen und ökonomischen Instrumenten ausgeübt werden, in Betracht zieht, dann sieht man wohl schnell ein, dass die Neutralität systematisch zur Entstehung von Sicherheitslücken führen kann. Das heißt etwa, dass die Pflege von Beziehungen zu russischen und chinesischen Investoren oder eben zu politischen und diplomatischen Kreisen dieser Mächte nicht unbedingt von Vorteil ist. Schweden und Finnland haben dies längst verstanden und werden durch den anstehenden Nato-Beitritt ihre Sicherheit erhöhen. Dies hat auch pragmatische Gründe – als ökonomische Standorte sind Finnland und Schweden viel sicherer, wenn sie Nato-Mitglieder sind.

Die Frontlinien in der heutigen Konfrontation zwischen liberalen Demokratien und Autokratien unterschiedlicher Art verlaufen nicht nur in den Schützengräben im Donbass, sondern auch innerhalb unserer Gesellschaften und Wirtschaften. Österreich ist in dieser Art Konfrontation in der Praxis längst nicht neutral, und daher ist es an der Zeit, auch von der formellen Neutralität Abschied zu nehmen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2023)

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