Buch der Woche

Sasha Filipenko: Im Visier von Stalins Henker

Sein Ich-Erzähler ist seltsam gelassen: Sasha Filipenko.
Sein Ich-Erzähler ist seltsam gelassen: Sasha Filipenko.LAURENT GILLIERON / Keystone / p
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Mit „Kremulator“ dringt der im Exil lebende belarussische Autor Sasha Filipenko zum finsteren Kern der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vor: Er lässt den Chef des Moskauer Krematoriums von „politischen Säuberungen“ erzählen, denen Millionen zum Opfer fielen.

Am Ende von Aleksandr Solschenizyns Roman „Im ersten Kreis“, der wie sein Monumentalwerk „Archipel Gulag“ Zeugnis von der stalinistischen Gewaltherrschaft ablegt, fährt ein Lastwagen durch Moskau, beschriftet mit dem Wort „Fleisch“. Ein französischer Korrespondent sieht das große Gefährt und notiert dazu: „Man muss zugeben, dass die Versorgung der Hauptstadt mit Lebensmitteln hervorragend ist.“ Was der Journalist nicht weiß: Der Wagen transportiert keineswegs Lebensmittel. Sondern Gefangene auf dem Weg in die entlegensten Gebiete der UdSSR, wo Zwangsarbeit, Hunger und Tod sie erwarten.

In diese Welt der bis ins Groteske gesteigerten Sowjethysterie, durch „Säuberungen“ einen perfekten Staat zu erschaffen, katapultiert uns Sasha Filipenkos „Kremulator“, ein Hybrid aus Bericht und Roman, wie auch der Titel für deutschsprachige Ohren nach der Verschmelzung zweier Wörter klingt: dem Kreml, seit Jahrhunderten Machtzentrale Russlands und seiner verschiedenen staatlichen Gebilde, und einer Maschine. Auch hier sind Lastwägen im nächtlichen Moskau unterwegs, auf manchen steht „Brot“, auf manchen „Champagner“. Ihre eigentliche Fracht lebt nicht mehr. Wenn Filipenko einen Studenten dem Wagen nachrufen lässt: „Chef, wirf mal eine Flasche runter!“, und es anschließend heißt: „,Sollen wir ihn mitnehmen?‘, schlug der Fahrer schmunzelnd vor“, dann ist das eine weitere bestürzend-perverse Note in diesem so nüchternen wie verblüffenden Text, der sich dem Phänomen der stalinistischen „Säuberungen“ – Schätzungen gehen von Millionen Opfern aus, die tatsächliche Zahl zu eruieren ist unmöglich – aus einer unerwarteten Richtung nähert.

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