Literatur

„Echtzeitalter“ von Tonio Schachinger: „Es war die Hölle, du Idiot!“

Tonio Schachinger war selbst Schüler in dem Wiener Elitegymnasium, über das er schreibt.
Tonio Schachinger war selbst Schüler in dem Wiener Elitegymnasium, über das er schreibt. Anna Breit
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In Tonio Schachingers „Echtzeitalter“ flüchtet ein moderner Schüler Gerber ins Computerspiel: Ein berührender Coming-of-Age-Roman über sadistische Lehrer und Teens auf der Kippe.

Es war die Hölle, du Idiot!“ Das ist Till Kokordas Bilanz nach acht Jahren in der Wiener Eliteschule Marianum: acht Jahre, in denen er den Psychoterror seines Klassenvorstands, Bruno Dolinar, erdulden musste, ein „Lord Voldemort im Lodenmantel“, dessen oberstes Ziel es war, die seiner Obhut anvertrauten Kinder zu brechen. Nur wer ihn aushält, so Dolinars Credo, ist würdig, sich Absolvent des Marianums zu nennen. Till wählt einen anderen Weg, die Flucht ins Gaming, vor allem in das PC-Spiel „Age of Empires“, in dem er es zur Meisterschaft bringt. Leichter wird sein Leben damit aber auch nicht.

Der österreichische Autor Tonio Schachinger (Jahrgang 1992) weiß, wovon er in seinem bemerkenswerten Coming-of-Age-Roman „Echtzeitalter“ schreibt. Denn das Marianum ist unschwer als das Wiener Theresianum zu erkennen, in dem auch Schachinger Schüler war. Bruno Dolinar ist der Realität nachempfunden ebenso wie die Schilderungen des Schulalltags im und um das Elitegymnasium.

Mit „Echtzeitalter“ taucht Schachinger zum zweiten Mal in eine nicht sonderlich leseaffine Gruppe ein: jung, männlich, Gamer oder Fußballer. Sein Erfolgsdebüt „Nicht wie Ihr“ erkundete die Welt des österreichischen Profifußballs und verhalf ihm 2019 zu einem Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In „Echtzeitalter“ beschreibt Schachinger das Leben junger Menschen unter Druck und die Ventile, die sie dafür suchen: Rauchen (was immer), Alkohol, Drogen, Gaming. Womit man Dampf ablässt, ist letzten Endes egal: „Allen ist gemeinsam, dass sie einem helfen, das Leben zu vergessen und zu ertragen.“


Hinter Mauern. Als der zehnjährige Till das Marianum zum ersten Mal von innen sieht, fällt ihm gleich die Mauer auf, die das Anwesen umgibt. Und er erkennt, was anderen Schülern erst mit 14 oder 15 klar werden wird: dass sie in diesem Schloss mit der schönbrunngelben Fassade und dem Park mit seinen Wiesen und Sportplätzen, „anders als andere Jugendliche aus anderen Schulen, (. . .) eingesperrt sind und dass die Mauer dabei eine sehr pragmatische Rolle spielt“.

Eine noch größere Rolle spielen allerdings die Mauern in Kopf und Herz, die Bruno Dolinar aufbaut. Dolinar ist Tills Klassenvorstand, ein Sadist mit psychopathischen Zügen und Epigone von Gott Kupfer aus Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler Gerber“. Warum seine Schüler die bravsten im Marianum sind, interessiert niemanden, denn die meisten „spüren kein Mitleid mit Kindern, die schon mit elf wissen, dass sie mehr erben werden, als ihre Lehrer je verdienen könnten, und das auch zeigen, wenn sie die Chance dazu bekommen, die unglaublich herablassend und brutal sein können“.

Laut wird Dolinar selten. „Schreien ist ein Zeichen von Schwäche, von mangelnder Durchsetzungsfähigkeit, genau wie physische Gewalt ein Zeichen, dass es für psychologische Kriegsführung nicht reicht.“ Dieser Mann hat andere Methoden, die Widerspenstigen unter seinen Schülern zu brechen: Entzug von Freizeit ist eine, völlige Isolation in der Klasse eine andere. Und das zehn Stunden am Tag.

Till, der im Marianum weder finanziell noch aufgrund von Aussehen oder Ausstrahlung zu den angesagten Kids gehört, sucht sein Heil in der Welt von „Age of Empires“ – vor allem nach der Scheidung seiner Eltern und dem Tod seines Vater. Schon mit 15 ist er einer der besten Spieler weltweit, lebt eine parallele Superheldenexistenz im Netz. Nur seine beiden Freundinnen Feli und Fina, die auf ihre Weise gegen die Konventionen rebellieren, weiht er ein. Seine Welten zusammenzuführen wird Till allerdings viel kosten.


Die Sprache der Zeit. Mit „Echtzeitalter“ beweist Tonio Schachinger einmal mehr, dass er die Sprache dieser Zeit spricht. Der Roman ist literarisch keineswegs fehlerlos, teilweise langatmig, sehr detailreich in den Gamingszenen, in die ihm wohl nur wenige Leser folgen können. Schachingers Können liegt in Atmosphäre und Szenerie, in die er seine irritierenden, berührenden und erschütternden Figuren setzt. Eine Empfehlung, nicht nur für Eltern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2023)

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