Gastkommentar

Unterschätzt die disruptive Kraft der KI nicht

(c) Peter Kufner
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Generative KI ist eine Revolution, deren Folgen sehr wahrscheinlich viel größer als die des Internets sein werden.

DER AUTOR

Adrian Lobe (*1988), ist Politikwissenschaftler und freier Publizist. Zuletzt erschienen: „Mach das Internet aus, ich muss telefonieren“ bei C.H. Beck.

Wenn man in zehn Jahren auf die Technikgeschichte zurückblicken wird, wird der 30. November 2022 vermutlich ein Meilenstein wie der Launch des iPhones sein: An diesem Tag nämlich veröffentlichte die Entwicklerorganisation Open AI ihren Textgenerator Chat GPT. Das Sprachmodell hat eine steile Karriere hingelegt: Es schaffte Jura-Prüfungen in den USA, verfasste Reden von Abgeordneten und ist Co-Autor wissenschaftlicher Artikel. Wer nun das Ende der Suchmaschine proklamiert oder historische Vergleiche zum Taschenrechner ziehen will, unterschätzt die disruptive Kraft der künstlichen Intelligenz. Denn KI bedeutet eine Revolution, deren Folgen noch viel größer als die des Internets sein werden.

Das Internet war eine Revolution der Publikation. Jeder konnte im Netz Inhalte veröffentlichen: Texte, Bilder, Musik. Eine Monografie, die man vorher mühevoll per Fernleihe beschaffen musste, war plötzlich mit einem Mausklick verfügbar; ein Blogger konnte vor einem Millionenpublikum schreiben. Wo vormals mächtige Plattenlabels, Verlage und Radiostationen die Aufmerksamkeit monopolisierten, erodierte das Internet eingedenk des gegenkulturellen Schlachtrufs „Cutting out the middleman“ („Haut den Mittelsmann raus“) intermediäre Akteure und öffnete die Schleusen für Inhalte. Auf einmal gab es Millionen Sender. Tauschbörsen wie Napster setzten die bestehenden Geschäftsmodelle der Musikindustrie massiv unter Druck. Es dauerte Jahre, bis Algorithmen als neue Gatekeeper die Informationsströme kanalisierten und sich mit Streaming-Diensten wie Spotify oder Netflix ein Monetarisierungsmodell für Musik und Filme etablieren konnte.

KI bedeutet nun eine Revolution der Produktion, genauer gesagt: der Kulturproduktion. Jeder kann heute auf Knopfdruck Texte oder Bilder produzieren, egal, wie kreativ oder talentiert er ist. Jeder Mensch ist ein Künstler, sagte schon Joseph Beuys, wobei man hinzufügen müsste: auch KI. Bildgeneratoren wie Dall-E oder Midjourney verwandeln wie von Geisterhand Texteingaben in Bilder oder Designvorlagen. Man gibt einen Prompt ein – zum Beispiel „Elon Musk in einem Monet-Gemälde“ –, dann spuckt die Maschine ein impressionistisches Gemälde aus, als hätte der Meister selbst zum Pinsel gegriffen.

Ist jede KI ein Künstler?

Es gibt mittlerweile auch multimodale KI-Systeme, die Songtexte von David Bowie oder Snoop Dogg zu Musikvideos verarbeiten, sowie Musik-KIs, die Texte mit der gewünschten Stimme vertonen. Der chinesische Musikstreamingdienst Tencent Music hat unlängst 1000 Songs veröffentlicht, die von einer künstlichen Intelligenz eingesungen wurden.

Kulturproduktion war trotz der Computertechnik bislang Handarbeit: Texte mussten manuell verfasst und redigiert werden, mag die Transkriptionssoftware auch noch so gut sein, und auch mit Drum-Maschinen und Synthesizern musste die Tonspur von einem Menschen im Studio abgemischt werden. Mit dem Eintritt in die vierte industrielle Revolution und dem Siegeszug der künstlichen Intelligenz wird Kultur zur Massenware: serielle, standardisierte Werke von der Stange, beliebig austauschbar und veränderbar. Auf Amazons Plattform Kindle Direct Publishing sind bereits mehr als 200 Bücher gelistet, die von Chat GPT (mit-)verfasst wurden. Romane, Bilder, Songs – Werke lassen sich am Computer konfigurieren wie ein Neuwagen im Autohaus.

Gewiss, man muss nicht gleich den Untergang des Abendlands heraufbeschwören, nur weil der US-Spielzeughersteller Mattel mithilfe einer Bild-KI Modellautos designen lässt und Modeschöpfer damit neue Kollektionen entwerfen. Es verändert aber möglicherweise die Fantasie derer, die die Kleider und Autos von morgen entwerfen.

„Dampfmaschinen des Geistes“

IBM-Präsident Thomas Watson nannte seine Computer einst „Dampfmaschinen des Geistes“: „Unsere Maschinen befreien den menschlichen Geist, indem sie ihm langweilige Routinearbeit abnehmen“. Die Elektronengehirne, die in den 1950er-Jahren aus tonnenschweren Rechnern konstruiert wurden, haben mit den Denkmaschinen von heute kaum noch etwas gemein. Die Rechenleistung neuronaler Netze, die mit Billionen Parametern ausgestattet sind, ist um ein Vielfaches höher als die der schrankgroßen Elektronen-Automaten. Denkt man die Metapher weiter, müsste man Sprachmodelle als „Rennmotor des Geistes“ bezeichnen. So schnell, wie Chat GPT druckreife Texte herunterrattert, kommt keine eiweißbasierte Intelligenz mit. Allein, was ist der Wert geistiger Arbeit, wenn Maschinen Texte, Pixel und Musikschnipsel sampeln? Wird es in Zukunft noch geistiges Eigentum geben?

Das Internet als billige Kopiermaschine hat das Urheberrecht weitgehend geschleift: Jeder kann kostenfrei Texte und Grafiken herunterladen und vervielfältigen, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Generative KI, die letztlich eine Mathematisierung der Techniken des Mash-ups und Remixes ist, treibt diese Verwertung auf die Spitze: Die Datenkonzerne weiden mit ihren Mähdreschern die Felder der digitalen Allmende ab und ernten die Früchte, mit denen sie ihre datenhungrigen Maschinen füttern. Freiwillige Wikipedia-Autoren, die tagelang an einem Artikel feilen, sehen keinen Cent dafür, wenn Webcrawler durch ihre Texte pflügen und Sprachmodelle Buchstaben neu verschrauben. Ökonomen nennen das die „Tragik der Allmende“, man könnte es aber auch als Raubbau an einem Kulturgut bezeichnen.

Die Kommerzialisierung von Gemeingütern war im Grunde schon in der kalifornischen Ideologie angelegt, deren Anhänger immer von der elektronischen Agora schwärmten, aber immer nur den elektronischen Markt meinten. Das ideologische Erbe der Hippies dient dabei als Legitimationsfolie für eine Ablehnung von Privateigentum an Daten, ohne die das ausbeuterische Geschäftsmodell der Tech-Industrie gar nicht möglich wäre. Insofern lebt der digitale Kapitalismus mitsamt seiner Innovationsdynamik von sozialistischen Voraussetzungen: einer Vergemeinschaftung von Daten.

Alles wäre offen

Der ehemalige „Wired“-Chefredakteur Kevin Kelly hat 2009 in einem klugen Essay beschrieben, wie unter den Bedingungen einer global vernetzten Open-Source-Kultur eine neue Form des Sozialismus entstehen könnte: der „Dot-Kommunismus“. „Statt in kollektiven Farmen versammeln wir uns in kollektiven Welten. Statt staatlicher Fabriken haben wir Desktop-Fabriken, die an virtuelle Kooperativen angeschlossen sind. Und statt Bohrer, Spitzhacken und Schaufeln teilen wir Apps, Skripte und offene Schnittstellen (. . .).“ Geht es nach den Tech-Vordenkern, werden wir künftig mit Gehirn-Computer-Schnittstellen nicht nur Daten, sondern auch Ideen und Gedanken teilen. Privateigentum gäbe es dann ebenso wenig wie Privatsphäre. Alles wäre offen. Ob eine hypertransparente Gesellschaft die Fähigkeit zu Innovation und Erneuerung hat, darf bezweifelt werden.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2023)

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