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Schach-WM: Der heikelste Zug gilt Wladimir Putin

FILE PHOTO: Chess - FIDE World Championship 2023
FILE PHOTO: Chess - FIDE World Championship 2023REUTERS
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Für Jan Nepomnjaschtschi würde der Titelgewinn zugleich die  Gewissensfrage stellen: ein Weltmeister aus oder auch für Russland?

Astana/Wien. Nichts ist im Schach wichtiger als die Analyse der eigenen Position. Auf dem Brett fällt diese für Jan Nepomnjaschtschi nach elf von 14 regulären WM-Partien gegen Ding Liren positiv aus. 6:5 liegt er voran und könnte Russland den ersten Weltmeister seit 17 Jahren bescheren. Im Machtspiel der politischen Kräfte aber steht der 32-Jährige seit Beginn des Ukraine-Krieges auf scheinbar verlorenem Posten: zu kritisch in den Augen der Kriegstreiber und vieler Landsleute, zu zurückhaltend für Beobachter aus dem Westen.

Denn auch wenn Nepo, wie er genannt wird, die WM offiziell unter neutraler Flagge spielt, zweifelt niemand daran, dass die russische Regierung seinen möglichen Erfolg als Imagepolitur feiern würde. Das Interesse in Russland ist groß, man werde „mitfiebern“ und auf die Rückkehr der Schachkrone warten, hatte Regierungssprecher Dmitri Pesko, zugleich Leiter des Kuratoriums im russischen Schachverband, im Vorfeld angekündigt.

Allerdings ist Nepo auch in der Heimat mehr geduldet denn geliebt. Verantwortlich dafür ist seine Unterschrift unter dem offenen Brief an Präsident Wladimir Putin, in dem eine Gruppe von 44 russischen Schachspielern und -spielerinnen zu Kriegsbeginn die Einstellung des Feuers und eine friedliche Lösung des Konflikts gefordert hatte. Nicht zufällig wurde später ein Banner mit Nepos Konterfei aus dem Stadion in seiner Heimatstadt Brjansk entfernt.

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Fehde mit Karjakin

Viele Politiker in Moskau hätten offensichtlich lieber den von der annektierten Krim stammenden ehemaligen WM-Herausforderer Sergej Karjakin in Astana gesehen. Dieser bekundete gleich zu Beginn des Krieges seine Unterstützung und wurde dafür vom Kreml mit einem Orden ausgezeichnet. Die Fide hingegen entzog ihm für ein halbes Jahr die Spielerlaubnis, er verpasste dadurch das Kandidatenturnier und wurde durch Ding Liren ersetzt. Seither reden die beiden Schach-Großmeister kein Wort mehr miteinander.

Vielmehr intrigiert Karjakin auch während der WM gegen seinen Rivalen, lästert als Kommentator und stachelt auch den russischen Schachverband auf. Dessen Präsident, Andrej Filatow, verglich Nepo ob seiner Aussetzer, die zwei Niederlagen nach sich gezogen hatten, despektierlich mit einem „Affen mit einer Handgranate“.

Nepos Team verurteilte die Aussagen des Verbands und bediente sich ebenfalls eines tierischen Vergleichs: Verbandschef Filatow gleiche wegen seiner Wandlungsfähigkeit vom Unterstützer zum Kritiker und zurück einem Chamäleon.

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Das Dilemma: Sport und Politik

Nepo selbst hält sich seit der Antikriegspetition wie viele andere Landsleute, die in der Öffentlichkeit stehen, mit klaren Aussagen zurück. „Je spannender ein Jahrhundert für die Historiker ist, desto düsterer ist es in der Gegenwart“, sagte er vage zur aktuellen Situation.
Er bezeichnet sich selbst als Patriot und machte gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ deutlich, dass die Verbindung zwischen Politik und Sport für ihn unbestritten sei: „Ich verstehe die Leute nicht, die die Parole verbreiten, dass der Sport nichts mit Politik zu tun hat. Das hat er. Die Politik spielt direkt oder indirekt eine sehr wichtige Rolle im Leben eines jeden.“

Dem WM-Triumph so nah (spätestens am 30. April entscheidet ein Tie-Break), wäre die Krönung für Nepo zugleich Dilemma: Sich als russischer Weltmeister vom Kreml feiern lassen und damit im Sympathieduell mit Magnus Carlsen, der auf die Titelverteidigung verzichtet hat, erst recht verlieren oder Putin und Gefolgschaft durch Distanzierung brüskieren und womöglich die Existenz in der Heimat riskieren? (swi)

(swi)

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