Gastkommentar

Ja, das soziale Netz weist Risse auf

Replik auf R. Schwaiger. Wie die Teuerung armutsbetroffenen Menschen zusetzt. Eine Sora-Befragung liefert neue Erkenntnisse.

Der Autor

Klaus Schwertner (*1976) ist Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien.

Vergangene Woche war hier von Rosemarie Schwaiger zu lesen, Hilfsorganisationen würden mit ihrem „permanenten Alarmismus“ den Sozialstaat schlechtmachen. So dramatisch sei die Lage nicht – kein Hungern, Frieren oder Darben – immerhin hätten wir einen Sozialstaat, der mit jährlich rund 130 Milliarden Euro gut ausgestattet sei. Das müsse und würde genügen.

Es ist schon richtig. Wir haben einen Sozialstaat, der viele Menschen vor dramatischeren Armutssituationen schützt. Und auch wenn der überwiegende Anteil des Sozialbudgets für Pensionen und Gesundheit ausgegeben wird und nur knapp ein Prozent für die Ausgaben der Sozialhilfe vorgesehen sind, braucht unser Sozialstaat den Vergleich mit anderen Ländern nicht zu scheuen. Als Hilfsorganisation weisen wir immer wieder auf diese Errungenschaft hin – etwa auch dann, wenn wir die Einmalhilfen von Bund und Ländern oder die Valorisierungen mancher Sozialleistungen zuletzt öffentlich begrüßt haben.

Und doch: Die Krisen waren und sind ein Stresstest für unser Sozialsystem. Wir sehen deutlich, dass das soziale Netz Risse aufweist. Der Druck auf viele Menschen steigt. Rekordinflation und Teuerung setzen armutsbetroffenen Menschen in einem Ausmaß zu, das uns Sorge bereiten sollte. Da reden wir nicht von Alarmismus, sondern von Tatsachen, die in den kürzlich veröffentlichten Armutszahlen der Statistik Austria, auf die sich auch Rosemarie Schwaiger bezog, aufgrund des Erhebungszeitraums zwischen Februar und Juli 2022 nur bedingt abgebildet sind. Wir sprechen von leeren Kühlschränken und kalten Wohnungen. Von unbezahlbaren Energiekosten oder fehlendem Geld, um die Entwicklung der eigenen Kinder zu fördern oder sich ein zweites Paar Schuhe zu kaufen. Was stimmt, aber auch von niemandem behauptet wurde: In Österreich muss kein Mensch verhungern. Das heißt im Umkehrschluss, dass es auch bei uns Menschen gibt, die Hunger leiden bzw. sich nicht ausgewogen ernähren können. „Ist es wirklich so schlimm, dass wir Suppenküchen aufmachen müssen?“, fragt Schwaiger. Man muss entgegnen: Diese Lebensmittel-Ausgabestellen haben längst geöffnet, und die Schlangen davor werden länger – nicht nur bei der Caritas.

Suppenküchen gibt es längst

Dass Armut zunimmt, sehen wir auch in unseren 71 Sozialberatungsstellen, in denen jährlich über 60.000 Menschen unterstützt werden. Gemeinsam mit dem Sozialforschungsinstitut Sora haben wir eine Befragung unter 400 Klientinnen und Klienten in Wien und Niederösterreich durchgeführt. Die Befragung „Unterm Radar“ gibt Einblick in die Lebensrealität von erheblich materiell und sozial deprivierten Menschen. Die Ergebnisse sind alarmierend. 76 Prozent sind nicht mehr in der Lage, regelmäßig warmes Essen für sich und ihre Kinder auf den Tisch zu stellen. Mehr als zwei Drittel mussten sich aufgrund der Teuerungen verschulden. 73 Prozent können ihre Wohnung nicht warmhalten, 70 Prozent abgenutzte Kleidung nicht ersetzen. Diese Menschen werden langfristig Hilfe benötigen. Sie geben an, dass sie ohne Unterstützung von Hilfsorganisationen nicht über die Runden kommen würden.

Wir würden unsere Aufgabe schlecht machen, würden wir darauf nicht hinweisen. Konkret braucht es neben der Reform der Sozialhilfe neu etwa auch die wegen der abgesagten Arbeitsmarktreform ausständige Inflationsanpassung von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe sowie nachhaltige Lösungen im Bereich Wohnen und Energie. Ich erlaube mir deshalb an dieser Stelle anstatt mit einem alarmistischen Ausrufezeichen mit einer Frage zu schließen: Worauf warten wir noch?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2023)

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