Interview

Milo Rau über Antigone: „Ihre Argumentation ist ultra-identitär“

NT Gent
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Der politisch stark engagierte Theatermacher Milo Rau wird ab 2024 die Wiener Festwochen als Intendant gestalten, heuer schon ist ab 25. Mai seine Version der „Antigone“ zu sehen. Ein Gespräch über Aktivismus im Theater, Kapitalismus, Wien und Widersprüche, die man ertragen muss.

Sie proben derzeit an „Antigone im Amazonas“, Ihrer Version der „Antigone“. 2020 kam die Aufführung 2020 wegen Corona nicht zustande, doch die Hauptdarstellerin Kay Sara sagte, es wäre kein Theaterstück gewesen, sondern eine Aktion, und kein Akt der Kunst, sondern ein Akt des Widerstands. Jetzt wird „Antigone auf Amazonas“ wirklich aufgeführt. Ist das noch immer kein Akt der Kunst?

Es ist zumindest ein Akt des Theaters: der Versuch, die antike Tragödie mit dem Aktivismus der brasilianischen Landlosenbewegung MST zusammenzubringen.

Politischer Aktivismus ist ja sicher etwas Wichtiges. Aber ist Theater wirklich ein guter Ort dafür?

Schwierige Frage. Wir haben ja gerade erst auf der gesperrten Bundesstraße durch das Amazonasgebiet das Massakers im Jahr 1996 reinszeniert. Das war ein klarer Akt der Aneignung, des Widerstands. Es gibt aber andere Kontexte, wo Theater weniger Widerstand ist und eher etwas Emotionales oder Ästhetisches hat. Für mich ist das sehr abhängig von der konkreten Situation: Wo macht man was mit wem? Was wir in Brasilien gemacht haben und das, womit wir jetzt durch Europa touren, das sind zwei verschiedene Akte.

Aber Kay Sara ist zugleich Aktivistin und Schauspielerin?

Ja. Sie sagt auch oft: Das ist das letzte Stück, das ich jetzt mache, und dann mache ich nur noch politische Aktion für meine Sache, für die Sache der Indigenen. Das verstehe ich auch. Bei Brecht heißt es: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

Das mag nach einer Widerstandsaktion anders sein. Aber ist es nicht einer der Vorzüge des Theaters, dass in ihm nicht immer klar ist, was gut und was böse, was wahr und was falsch ist? Dass vieles ambivalent ist?

Nun, Herrschaftssituationen sind meistens ambivalenzfrei. Aber wenn beispielsweise die Landlosen das Massaker von 1996 auf der gesperrten Transamazônica reinszenieren, ist das unglaublich ambivalent.

Sie haben vorhin von Aneignung gesprochen. Das Wort kommt heute in der Debatte über Kultur oft vor: Viele werfen anderen Aneignung vor. Wenn Schauspieler ein Massaker nachspielen, hat das nicht etwas von Aneignung an sich?

Wenn schon, dann ist es die Aneignung des Ereignisses durch die Opfer, die nie Gerechtigkeit erfahren haben. In diesem Sinn ist Aneignung für mich ein positiver Begriff. Sie kann natürlich auch negativ sein, wenn etwa Bilder so bearbeitet werden, dass es aussieht, als wäre die Opfer selbst schuld an dem, was passiert ist. Aber das Schöne an unserer Aneignung ist, dass sie auf einer Straße stattfindet, die metaphorisch für die Ausbeutung dieser Region durch die Großfinanz steht und gleichzeitig zur Bühne wird und gesperrt wird. Wodurch ihre eigentliche Bestimmung, nämlich das Eisenerz und das Soja und so weiter wegzubringen, ihr entzogen wird. Ein anderes Beispiel: Wenn Berufsschauspieler ein Tschechow-Stück politisch aufladen und im Burgtheater zeigen, dann ist mir der politische Gehalt dieses Vorgangs unklar. Aber wenn man im Iran einen Tschechow aufführt, dann ist das äußerst ambivalent und politisch.

Zurück zur „Antigone“: Bei Sophokles steht nicht genau fest, wer der Gute und wer der Böse ist. In Ihrer Variante ist das ziemlich klar. Im Pressetext lese ich, dass Sie die Geschichte als „blutiges Aufeinandertreffen von traditioneller Weisheit und Turbo-Kapitalismus“ erzählen.

Also bei Sophokles ist Kreon schon als patriarchaler Idiot gezeichnet, da muss man extrem entschärfen, um ihn ein bisschen sympathisch zu machen. Er will etwa gar nicht mehr mit Antigone sprechen, er sagt: Du bist eine Frau, warum soll ich mit dir überhaupt reden? Das Stück ist fast nicht mehr zu gebrauchen heute, wenn man es nicht umformatiert. Wir haben viele Debatten gehabt: Wer ist Kreon? Ist das Bolsonaro oder Lula? Ist das quasi ein toleranter Mensch, der versucht, ein Gleichgewicht zu finden innerhalb eines Systems, das man eigentlich ablehnen muss? Oder ist er ein fieser Faschist und Patriarch?

Nun ja, er ist ein Vertreter des Rechtsstaats.

Genau. Um es einigermaßen interessant zu machen, muss man ihn als tolerante Figur zeichnen, der ein System retten will, das zwar in sich falsch ist, der aber realpolitisch versucht, eine Situation zu vertreten, die unvertretbar geworden ist. Auf der anderen Seite steht Antigone mit ihrem jungen Idealismus, die sagt einfach nein. In der zentralen Szene unseres Stückes sagt Kreon zu seinem Sohn Haimon: Im wirklichen Leben kannst du nicht einfach nein sagen. Das ist feige, das ist auch irrational. Man muss schauen, dass man gemeinsam einen Weg findet. Das ist Kreons Haltung. Dagegen steht die Frage der Indigenen, der Landlosen, die Frage von Milliarden Menschen auf diesem Planeten: Wollen wir innerhalb dieses Systems einen Weg finden, weil wir sowieso keinen Platz haben? Die Idee Kreons von Toleranz innerhalb des Kapitalistensystems hat für sie eine andere Bedeutung als jetzt für uns beide. Wir sind ja auch in der Kreon-Figur vertreten. Das Stück heißt zwar „Antigone“, aber die wahre Hauptfigur mit Tiefe und Ambivalenz ist Kreon. Er ist alle fünf Szenen anwesend, hinterfragt sich, bleibt als einziger am Leben.

Eine gängige Interpretation der „Antigone“ ist, dass es in ihr um die Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und positivem Recht geht. Würden Sie sagen, dass Sie auf der Seite des Naturrechts stehen?

Auch Hegel hat gesagt: Was Kreon vertritt, ist nicht positives Recht. Einen Kriegsgegner nicht zu begraben, verstößt gegen positives Recht. Da verlässt er den Raum des Rechtes, wird wirklich zum Diktator. Das ist seine Problematik.

Wer ist denn der Kreon in Ihrer Version?

Eine Schauspielerin mittleren Alters, Sara De Bosschere, mit der ich schon sehr viel gearbeitet habe. Sie steht innerhalb des flämischen Theaters für so eine Mitte-Links-Position. Sie versucht, einen Ausgleich zu findet mit der jungen Generation. Ähnlich wie Kreon: der westliche, aufgeklärte Mensch, der einfach nicht fähig ist loszulassen, obwohl er weiß, dass das, was er tut, in den Abgrund führt. Wir haben eine ganz zentrale Szene von Sophokles übernommen, wo der Seher Teiresias zu Kreon sagt: Die Vögel singen nicht mehr, die Natur hat begonnen zu schweigen, aber auch keine Zeichen sind ein Zeichen. Es gibt keinen Kompromiss mehr. Du musst aufhören. Du musst die Toten begraben. Du musst aufhören, die Natur auszubeuten. Es ist Schluss. Interessant, wie Sophokles das schon zu Beginn unserer Zivilisation gemerkt hat. Schon im ersten Chorgesang geht es ja um die Monstrosität des Menschen, der sich die Natur unterwirft, aber selber daran sterben wird. Das ist einer der ältesten Texte, die uns überliefert sind, und er sagt bereits den Totalkollaps von heute voraus. Erstaunlich. Da fragt man sich: Warum eigentlich dieser Selbstzweifel der Rationalität, der rationalen Zivilisation bereits bei ihrer Geburt?

Und in Kreon manifestiert sich dieser Zweifel.

Ja, in ihm sieht man die Rationalität scheitern. Er bespricht sich mit dem Chor und sagt: Lass uns das diskutieren, ich kann ja vielleicht ein bisschen abweichen, aber die Staatsräson verlangt, dass ich Polyneikos nicht begrabe, weil sonst gelte ich als Schwächling und dann verlier ich meine Macht. Seine Herrschaft hat keine Legalität. Er ist nie gewählt worden, er gehört auch nicht zum Königshaus. Er muss wirklich durchgreifen; wenn er Schwäche zeigt, ist es vorbei. Dann bricht die Anarchie aus, und das weiß er. Im Grunde ist, was Sophokles untersucht: das Problem einer aufgeklärten Tyrannis. Er zeigt, wie die Demokratie versucht, einen Weg zu finden zwischen Naturrecht und positiven Recht, was wir ja immer auch versuchen.

Was spricht denn dagegen?

Ein Begriff, der von den indigenen Philosophen und der Landlosenbewegung stark kritisiert wird, ist die Nachhaltigkeit. Sie ist im Grunde ein neoliberaler Schutzbegriff für die großen Konzerne: Sie nennen einfach alles nachhaltig, biologisch und divers, dadurch schützen sie sich gegen alle Kritik, aber hinter den Kulissen geht es ultrakriminell zu. Da finden wir genau die Figur Kreon: Kreon spricht über Freiheit, Kreon spricht über Demokratie, deshalb erkennen wir uns so stark in ihm. Wir denken: Na gut, man muss die Feinde der Demokratie, die Feinde der Freiheit ausschließen. Es gibt da so ein paar Irre, die gehören nicht dazu. So eine ist Antigone. Sie ist eine ganz schwierige Person. Ihre Argumentation ist ultraidentitär.

Identitär im rechten oder im linken Sinne?

In beiden Sinnen. Die Indigenen sprechen ja auch von Territorium, von Kultur, von jahrtausendealten verbrieften Rechten. Die sprechen von Dingen, die in der globalisierten Gesellschaft überhaupt nicht mehr verständlich sind. Dass man mit dem Boden, mit der Geschichte, mit den Toten, mit den Ahnen eine Einheit bildet. Dass man als Individuum gar nicht so viel zählt. Das ist eine Konzeption, die sowohl links wie rechts, die in einer gewissen Hinsicht vorzivilisatorisch oder nachzivilisatorisch ist. Also die in sich natürlich auch problematisch ist.

Ich sehe, Sie sind gar nicht so eindeutig auf der Seite der Antigone. Sie können schon Kreon auch verstehen, oder? Schließlich leben Sie ja wie ich in einem Rechtsstaat, wo es immer wieder Kompromisse gibt, was zumindest in Österreich, aber auch in der Schweiz ganz gut funktioniert. Also ist Ihnen die Antigone in ihrer Urtümlichkeit auch nicht ganz geheuer.

Ich würde es anders sagen. Ich finde in der Antigone eine aktuell extrem wichtige Position: ihr radikales Nein zu den Handlungsangeboten, die immer Kompromisse sind. Sie sagt: Ich will es grundsätzlich nicht. Aus der Sicht der Indigenen ist das verständlich, sie sagen: Wir haben in dem System keinen Platz. Wir sind ortlos. Es ist für uns nichts vorgesehen darin. Entweder wir kämpfen oder wir verschwinden. Und da kommt halt die Logik des Widerstands. In den Herrschaftszentren Wien oder Zürich oder Gent sind natürlich alle möglichen Kompromisse möglich. An den Rändern des Imperiums ist das ganz anders. Dort gibt es keinen Kompromiss. Wenn du versuchst, das unrechtmäßig angeeignete Land der großen Soja-Plantage zu besetzen, dann wirst du höchstwahrscheinlich von den Milizen erschossen.

Sie sprechen von System. Ist es wirklich ein und dasselbe System, das in Brasilien herrscht wie bei uns?

Ja, ich glaube wirklich, dass der globale Kapitalismus, mindestens seit 200, 300 Jahren, das erste Imperium ist, das wirklich global ist. Wenn eine Goldader im Kongo gefunden wird, dann ändern sich die Lebensmittelpreise von Lebensmitteln in Asien. Und das kleine Kind in Afrika hat die gleichen Träume wie meine Tochter in Köln. Da hängt alles zusammen.

Ist das denn nur schlecht?

A: Grundsätzlich ist eine positive Gleichschaltung eine gute Sache. Aber nicht bei ungleichen Chancen und bei einer Geburtslotterie, wie wir sie auf diesem Planeten haben. Die Frage ist immer: Was macht man aus diesem globalen System? Was ich am Kapitalismus immer schön fand, ist, dass er wertfrei ist: Jeder kann aufsteigen. Wenn Sie einen schönen Band mit Liebeslyrik schreiben und zehn Millionen das lesen wollen, dann werden Sie Millionär. Der Kapitalismus ist nicht für oder gegen Liebeslyrik. Er sagt nur: Es gibt diese Verteilsysteme. Das Problem ist deren Zugänglichkeit. So ist die Landlosenbewegung in Brasilien einer der größten Reisproduzenten. Aber alle Distributionssysteme sind ihr verschlossen.

Das würde auch jeder ehrliche Neoliberale verurteilen.

Das ist ja der Witz, dass der Kapitalismus sich liberal gebärdet und in Wirklichkeit total monopolistisch ist. In Lateinamerika gibt es immer weniger Eigentümer von Land. Der Reichtum gehört immer weniger Menschen. Natürlich, wir gehören zu dem dünnen Kleinbürgertum in Westeuropa. Wir haben eine andere Erfahrung. Also wir haben irgendwie die Erfahrung, dass man so zu so einem kleinen Reichtum kommen kann. Aber im globalen Maßstab wird dieses Mittelschicht immer kleiner. Man erzählt uns, wir haben den Neoliberalismus, die Monopole werden zerschlagen und so weiter. Wenn man aber guckt, zum Beispiel die Lebensmittelmonopole, die sind gewaltig. Die Minenindustrie im Ostkongo ist in der Hand von drei Firmen. Es sind immer ganz wenige Player, und es werden sogar noch weniger.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich gegen den „globalen Faschismus“ wenden. Wie würden Sie Faschismus definieren?

Vielleicht als eine Ideologie, die will, dass es einer zufällig definierten Gruppe aus irgendwelchen Gründen besonders gut gehen soll, und alle anderen, die nicht im Club sind, dürfen gar nicht mitmachen.

Aber das gibt es auch ohne Kapitalismus.

Ich meine, wir leben seit 2000 Jahren im Kapitalismus, insofern ist alles eine Erscheinungsform.

2000 Jahre? Nicht viel kürzer?

Nicht, wenn man Kapitalismus als Verwertungsideologie oder als Verbindung von Rationalität und Herrschaft über die Natur betrachtet und vielleicht auch noch von Verwertung von Objekten. Darum kann man ja die „Antigone“ heute noch lesen und viele andere Bücher aus der gleichen Zeit, als würden sie noch eins zu eins gelten. Ich habe die „Antigone“ meiner 15-jährigen Tochter zum Lesen gegeben: Sie hat das in zwei Stunden gelesen und verstanden. Das ist nicht schwierig zu verstehen, einfach weil es heute noch gleich läuft. Gut, es gibt so fiese Figuren wie Kreon nicht mehr, aber grundsätzlich leben wir noch im gleichen System.

Aber in Theben hat noch kein Kapitalismus geherrscht.

Okay, das war eine Feudalgesellschaft am Übergang von einer Stammesgesellschaft zu einer Art Demokratie. Aber ich glaube schon, dass wir uns in dieser Zeit wiedererkennen können. Nehmen Sie meinen Film „Das neue Evangelium“, wo es um die Zerstörung der nahöstlichen Gesellschaft durch das römische Imperium geht: Jesus schart die zersplitterten, noch traditionell organisierten Menschen um sich und fördert ein spirituelles System, das das Heil im Jenseits erhofft. Als ich das verfilmte, wussten die Leute teilweise nicht, wann ist das Dokumentar- und wann ist das Bibelsprache. Weil diese Sprache noch genau wie heute brauchbar ist und die Probleme eins zu eins nachzuvollziehen sind.

Wenn also die Einführung des Kapitalismus vor circa 300 Jahren so wenig geändert hat, dann ist er gar nicht schuld an so vielen Missständen, wie es immer heißt?

Ja, der Kapitalismus erscheint immer ganz neu und fresh und gerade erst erfunden, aber ich glaube, das ist ein großer Irrtum. Zum Beispiel ging das Römische Reich unter, weil Rom durch den Einfall der Vandalen vom nordafrikanischen Getreide abgeschnitten wurde. Das war der Todesstoß für das Imperium. Denn die Italiener haben damals gar kein Getreide mehr angebaut, die waren im Grunde globaler, als wir es heute sind. Aber ob man das jetzt Kapitalismus oder feudalen Kapitalismus oder wie auch immer nennt, das ist wirklich nicht mein Spezialgebiet. Ich habe immer nur gestaunt, dass all diese Texte Tragödien heute lesbar sind, als wären sie gerade erst geschrieben worden. Und das geht wirklich bis in die Sprache der Leidenschaft von Sappho oder Ovid usw. hinein. Wenn man im Sinn des Materialismus davon ausgeht, dass das Sein irgendwie das Bewusstsein bestimmt, dann muss man sagen: Dann muss das Sein der alten Römer ähnlich gewesen sein wie unseres, wenn ihr Bewusstsein so ähnlich war wie unseres.

Ich glaube eher umgekehrt: Das Bewusstsein war ähnlich, und darum war das Sein ähnlich. Aber ein Satz aus Ihrem „Genter Manifest“ klingt total nach Marx, nach seinen Thesen über Feuerbach: Es geht nicht mehr darum, die Welt darzustellen, es geht darum, sie zu verändern. Da frage ich mich schon: Warum soll man gerade Theaterleuten die Veränderung der Welt anvertrauen? Theaterleute sind doch, so wie ich sie kenne, oft nicht ganz seriöse Leute, die ihren Leidenschaften ausgesetzt sind, auch materiellen Versuchungen unterliegen, sich vielleicht sogar von politischen Mächtigen kaufen lassen. Vertraut man da nicht besser gleich auf Politiker?

Sie müssen schauen, wofür ich dieses Manifest geschrieben habe. Nicht für irgendwelche betrunkenen Theaterleute, sondern für ein Stadttheater. Ich hab mich gefragt: Wenn du eine Institution hast, die öffentlich bezahlt wird von Steuergeldern, was ist dann die spezifische Aufgabe dieser Institution? Es geht natürlich darum, die Gesellschaft zu reflektieren, aber vielleicht auch darum, neue Kollektive zu schaffen, Leuten Chancen zu geben, die vorher nicht auf dieser Stadttheaterbühne waren. Es heißt Stadttheater, weil die ganze Stadt da sein soll. Es sind ja auch praktische Forderungen im Manifest, etwa dass man die Stücke selber schreiben und nicht nur aus dem Regal ziehen soll. Aber in diesem ersten Satz ging es mir wirklich um die Grundfrage: Warum sollte ich die Wirklichkeit auf der Bühne darstellen, wenn ich nicht die Absicht habe, an diese Wirklichkeit einen aufklärerischen Anspruch zu stellen? Wie Sie richtig sagen: Mit der einen Hand nehmen wir Theaterleute das Geld der Reichen, mit der anderen Hand schreiben wir ein Manifest gegen die Reichen. Darauf kann man sagen: Ja stimmt, aber immerhin wusstest du, wofür du mich kritisieren musst.

Aber Theater, das nicht verändern will, ist auch okay? Shakespeares „Sturm“ etwa oder „Warten auf Godot“, da geht es nicht um Weltveränderung.

Ich würde sagen, dass sowohl Shakespeare wie Beckett wie wenig andere Künstler die Welt und wie sie wahrgenommen wird, radikal verändert haben.

Wie sie wahrgenommen wird, okay. Aber nicht die Welt.

Ja, also gut, ich meine, wir sind ja Künstler. Als Künstler ändert man die Wahrnehmung der Welt. Man ändert die Brille, die sich die Leute aufsetzen, um die Liebe zu sehen oder, im Sinne von Godot, die Existenz Gottes, den Sinn des Daseins. Erst unlängst habe ich einen Satz von Beckett wieder gelesen, der lautet ungefähr: „Ich bin meine Mutter, ich bin mein Vater und ich bin mein Sohn.“ Ist das eine marxistische Äußerung, wie ich die Welt verändern soll? Ich glaube nicht. Aber ich habe mich gefragt: Was macht dieser Satz mit mir, was passiert mit mir, wenn ich ihn lese? Ich glaube, das macht Kunst.

Das finde ich auch. Aber jetzt müssen wir noch kurz zu Wien kommen. Haben Sie schon Pläne für die Festwochen 2024?

Ja, viele. Aber da darf ich noch nichts sagen, einen Monat vor Vertragsbeginn.

Und wie sind Ihre ersten Eindrücke aus Wien?

Es ist schon ein erstaunlicher Planet. Ich habe immer das Gefühl, wenn ich beginne irgendwo zu bohren, dann kommen immer noch zehn weitere Namen, fünf Leute, die ich auch noch treffen sollte. Man kommt da an kein Ende. Es ist eine riesige Szene. Und was ich sehr toll finde, ist die Nähe zu Osteuropa. Das ist für mich eine neue Erfahrung. Dazu kommt in Gesprächen wie jetzt dieses Level an intellektueller Aggressivität, das ist einfach interessant. Die Leute sind hier ein bisschen weniger dumm als anderswo, habe ich den Eindruck.

Das ist sehr nett, danke. Wien hat auch eine schöne sozialdemokratische Tradition. Können Sie damit etwas anfangen?

Ja, total. Ich habe ja einige Freunde wie Robert Misik, der sich viel historisch mit dieser Tradition befasst hat. Gleichzeitig hat Wien auch eine antisemitische und faschistische Tradition. Aber das Rote Wien, das ist schon eine erstaunliche Sache. In Wien sind auch die Traditionslinien nicht einfach so abgebrochen wie etwa in Berlin, wo man das Gefühl hat es wird immer wieder alles ausradiert und vergessen.

Ich habe gehört, Sie wollen etwas zu Karl Kraus machen. Der hat aber zeitweise auch mit der Heimwehrdiktatur sympathisiert, mit dem Austrofaschismus.

Ich bin bei meinem Karl-Kraus-Studien anlässlich des runden Geburtstags erst am Anfang. Also ich denke, er war auch sehr ambivalent.

In Ihrer „Antigone“ geht es auch um diese Straße durch den Regenwald, die besetzt wird. In Wien gab es auch, Gott sei Dank viel harmloser, eine besetzte Straße: Eine Schnellstraße durch die Lobau wäre fast durch Blockaden verhindert worden. Sie wird jetzt doch gebaut. Könnten Sie sich vorstellen, eine Kunstaktion dazu zu machen?

Ja. Es entsteht eine unglaubliche Energie, wenn eine wichtige Straße besetzt wird. Was da plötzlich für ein Freiraum entsteht! Ich habe natürlich sofort beschlossen, dass auch in Wien Straßenbesetzungen ein wichtiger Teil des Theaterlebens werden sollten. Weil das ist wirklich ein toller Spielort. Das habe ich in Lateinamerika gelernt, dort werden sehr oft Straßen besetzt. Um das Wort Aneignung noch einmal zu verwenden: Es ist die Aneignung eines Raums, der sonst nur ein Durchgang ist. Ihn wieder zu einem lebendigem Ort zu machen, das ist wirklich eine ganz eigene, intensive Politik in diesem Vorgang. Den ich auch in Wien irgendwie zu finden hoffe. Mit den zahllosen Nachbarschaften, die es da zweifellos gibt.

Damit beißt man aber die Hände, die einen füttern. Weil die Politiker, die an der Macht sind und diese Straße bauen, auch die Festwochen organisieren.

Ja, das wäre zu hinterfragen. Es gibt schon diesen performativen Selbstwiderspruch, dass man das kritisiert, auf dessen Basis man arbeitet. Man kritisiert das Leben, aber sterben will man ja lieber nicht. Ich glaube, das muss man geistig aushalten, vielleicht nennt man das auch Dialektik. Ich werde, seit ich Theater leite, angegriffen als Vertreter einer Institution, wo aber die Künstler, die mich angreifen, von mir als Intendant beschäftigt werden. Wenn ich das nicht will, wenn mich dieser Widerspruch zu sehr stresst, dann muss ich von dieser Stelle zurücktreten. Dann denke ich mir: Dann halte ich es lieber aus. Ein Leben, in dem man ganz mit sich übereinstimmt, in dem alles richtig und rein ist, wäre kein gutes Leben für mich. Zumindest kein interessantes und kein zivilisiertes Leben. Da müsste ich mich aufs Land zurückziehen, ich dürfte keinen Gegenstand mehr kaufen, der durch irgendeine Wertsteigerungsschlaufe gegangen ist. Ich müsste auf Kleider verzichten, weil die unter menschenverachtenden Bedingungen hergestellt sind. Ich dürfte nicht mit anderen Menschen sprechen, weil die auch viel Dreck am Stecken haben. Also es würde quasi auf Wüstenemigration à la St. Antonius hinauslaufen, und auch dann würde mich höchstwahrscheinlich noch der Teufel in Träumen besuchen.

Das ist ja fast schon ein Plädoyer für Ambiguität. Robert Misik hat in dem Buch, in dem Sie auch vorkommen, den Slogan „Fuck ambiguity“ formuliert und das nicht als Liebesakt gemeint. Was sagen Sie dazu?

Man muss sogar in seiner Liebe zur Ambiguität ambig sein, oder was auch immer das Adjektiv ist. Manchmal finde ich Ambiguität super, in der Kunst, in der Charakterzeichnung, im Privaten. Aber ich glaube schon – und das ist ja diese „Antigone“-Geschichte –, dass man bei gewissen Dingen einfach nein sagen muss, auch wenn man sie vielleicht zu zehn Prozent oder 20 Prozent nachvollziehen kann.

Da drängt sich eine letzte Frage auf. Es kann sein, dass in einem Jahr die FPÖ in die Regierung kommt. Da werden viele Künstler dagegen protestieren. Wäre es nicht allzu billig, dagegen Kunst zu machen?

Man muss ja nicht Kunst machen. Wie gesagt, manchmal ist der Moment eines Manifests, einer nicht ambigen Aktion gekommen. Man besetzt eine Straße, man wehrt sich gegen eine Regierung, die man ablehnt. Natürlich kann man gleichzeitig einen Roman schreiben, in dem die gleichen Bösewichte die Hauptrollen spielen. Das ist halt der Widerspruch der Kunst. Niemand würde sich mit „Antigone“ befassen, wenn der Konflikt, der sich um diesen Kreon herum ergibt, nicht in sich interessant wäre, wenn dieser Typ in seinem ganzen Scheitern und in seiner Einsamkeit nicht bemitleidenswert wäre. Ohne Ambiguität ist seine Geschichte gar nicht erzählbar.

„Antigone im Amazonas“ ist Teil einer Antiken-Trilogie, von der „Orest in Mossul“ schon 2019 bei den Festwochen gespielt wurde. In Wien läuft das Stück am 25., 26. und 27. Mai im Burgtheater.

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