Vegetarische Küche

Paul Ivić: Der Gemüsekoch und der pure Geschmack

Paul Ivić (rechts) mit André Drechsel, Sommelier des Tian
Paul Ivić (rechts) mit André Drechsel, Sommelier des TianCarolina Frank
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Es ist eine urbane Legende, dass man nach einem Besuch bei Paul Ivić im Tian noch zum Würstelstand müsse. Warum das nicht stimmt – und was den besten vegetarischen Koch des Landes antreibt.

Beginnen wir mit einem Zitat des in Paris wie ein Popstar gefeierten Alain Passard: „Der vegetarischen und veganen Küche gehört die Zukunft.“ Vegan zu kochen ist freilich sogar für einen der besten Köche der Welt eine Herausforderung: „Das ist für einen Küchenchef, wie wenn ein Maler auf die Farben Blau und Gelb verzichten würde.“

Paul Ivić ist der Passard von Wien, und er lässt im Gespräch mit einer kleinen Neuigkeit aufwarten: „Wir kochen zu hundert Prozent vegan, wenn ein Gast das will, aber posaunen das nicht hinaus. Wir lassen dann Eidotter und Butter weg“, sagt er. „Auch im Tian Bistro sind wir zu 80 Prozent vegan. Wir wollen immer schauen, was geht.“ Was geht, das beweist die Küche des Tian, des ersten vegetarischen Restaurants in Österreich, das einen „Michelin“-Stern hält, sogleich: mit einer cremig-vollmundigen, veganen Mayonnaise zu einem frischen, mitsamt der Blätter servierten Radieschen, präsentiert wie eine farbige Arcimboldo-Skizze.

Ivić sieht sein Lokalkonzept vollkommen ideologiefrei, stellt aber fest, dass „alle nur von der Tierhaltung reden, aber immer noch zu wenig über Böden und ihre Gesundheit. Ein Brokkoli schmeckt nicht gleich wie ein Brokkoli. Es geht um die Bodenkultur, und da ist es beim Gemüse wie beim Wein: Du merkst einfach, woher etwas kommt.“ Vor mehr als zehn Jahren hatte er sein Erweckungserlebnis. Und es war weder Brokkoli noch ein Radieschen, es waren Bauerneier.

Ein Ei entfachte ein Feuer. „Ich war auf dem Bauernmarkt, wollte mir ein paar Eier fürs Frühstück kaufen. Die Bäuerin erzählte mir von ihren glücklichen Hühnern, was mir scheißegal war. Als sie das merkte, wollte sie mir die Eier nicht verkaufen“, erzählt er. „Ich kriegte sie dann doch, und als ich die Rühreier aß, verstand ich, worum es geht: um den puren Geschmack und um die Sehnsucht nach diesem Geschmack. Die Eier schmeckten, wie sie mir der Opa damals gemacht hatte, wenn ich bei ihm zu Besuch war. An diesem Tag hörte ich auf, degenerierte Lebensmittel zu essen.“

Das Ei hatte ein Feuer in Paul Ivić entfacht. Und er fing 2011 als Küchenchef des von Christian Halper gegründeten vegetarischen Tian in Wien an. „Nach unserem ersten Gespräch war klar: Hier will ich arbeiten.“ Das war keine leichte Übung. „Vegetarisch bedeutete damals für mich noch Fisch“, sagt Ivić. In den Wiener Gasthäusern galten Schinkenfleckerl als gemüsige Alternative zum Schweinsschnitzel. Das Restaurant wurde anfänglich wenig verwunderlich als leicht sektiererisch wahrgenommen. Es dauerte dann auch einige Jahre, bis Ivić und Halper die ideale Balance zwischen Ambiente, Angebot, Service, Weinkarte und dieser Küche fanden.

Der Maitre und Chefsommelier André Drechsel war an diesem Suchprozess wesentlich beteiligt. Er kuratiert eine der besten Weinkarten Österreichs, eine Mischung aus Naturweinen und seltenen Weißen Burgundern aus Frankreich. Der Service ist gut gelaunt und bestens gebrieft, das Team in der Küche ist achtköpfig, die Preise signalisieren, dass gut gemachte Gemüseküche im Status keinen Vergleich mit erstklassigen Feinschmecker-Adressen scheut. In diesen Tagen landen endlich zaghaft, aber doch die ersten Frühlingsgemüse auf den Tellern.

Microseasons einer Karotte. Unter dem langen Winter leidet ja nicht nur die landläufige Wahrnehmung der vegetarischen Küche. Viele der unter der Erde wachsenden Gemüse werden mit der Zeit als langweilig empfunden, vor allem der März gilt als der schlimmste Monat des Wartens auf das erste Grün. „Viele Menschen wissen nicht, dass sich Karotten und Rüben alle paar Wochen unterscheiden, was ihren Zuckergehalt betrifft“, sagt Ivić. „Je kälter es im Dezember und Jänner wird, desto mehr Zucker, damit die Karotte im Winter nicht friert. Der Koch muss auf diesen unterschiedlichen Zuckergehalt, der sich von Woche zu Woche ändert, reagieren.“

Kann denn die Karotte wirklich so viel, wie ihr nachgesagt wird? „Gemüse kann generell sehr viel, wenn man sich damit auseinandersetzt. Wir haben bis zu zwanzig verschiedene kleine Lieferanten. Das macht die Arbeit spannend.“ Bei dem winterlichen Tian-Pop-up in Zürs seien das der Vetterhof, im Sommer beim Pop-up in Zadar tauchte das Tian-Team in die Welt der dortigen Lieferanten ein. „Da gibt es einen Feigenbauern, der hat eine Qualität, die man bei uns einfach nicht bekommen kann. Seit unserem Auftauchen haben die Gemüsebauern in Kroatien ein anderes Selbstbewusstsein, einen anderen Status“, sagt Ivić.

An sich ist für den Koch aber auch das Umland von Wien sensationell. „Manchmal bringen uns Sammler und Sammlerinnen Produkte vorbei, die wir gar nicht gekannt haben und erst recherchieren müssen. Wir sagen uns dann, dass es fast peinlich ist, das nicht zu kennen.“ Mit Robert Brodnjak vom Krautwerk setzen sich Ivić und ein paar andere Köche jedes Jahr zusammen und machen einen Anbauplan. Es wird getestet, und das Restaurant Tian übernimmt für den Bauern das Risiko.

„Einmal hat das Krautwerk für uns blauen Mais angebaut“, sagt Ivić. „Allerdings haben wir acht Monate gebraucht, um zu wissen, was wir daraus zubereiten sollten.“ Es gebe zu wenig Fachliteratur für diese sehr aufwendige Art von Küchenarbeit, vieles habe sich die Tian-Mannschaft selbst erarbeiten und beibringen müssen.

Im Tian gibt es naturgemäß keine der sogenannten Luxuszutaten, außer weißen Trüffel. „Für mich ist Luxusprodukt, was mir Michael Bauer aus seinem Gemüsebaubetrieb bringt. Ein Biss hinein, das verschafft mir Glücksgefühle.“ Aus taufrischer Kohlrübe bereitet Ivićs Team etwa ein Dreierlei zu: einmal eine einfühlsam temperierte, aufgeschäumte Suppe aus der Rübe und aus Sellerie, dann ein Tatar, schließlich wie eine Rose geformte Kohlrabischeiben auf einer kleinen, knusprigen Tartelette. „Ohne dass man ins esoterische Eck kommen möchte, kann ich sagen, dass frisches Gemüse aus einem gesunden Boden mehr Energie und Geschmack bringt.“

Mit Demut und Dankbarkeit. Eines von Ivićs Lieblingsgerichten ist die Stosuppe. „Milch war früher ein lebendiges Produkt. Stand sie eine Zeit lang im Freien, dann wurde sie sauer und nicht kaputt. Wenn man die kaputte Milch von heute stehenlässt, wird sie einfach gammelig.“ Eine kleine Tasse Stosuppe wird zu einem Zwischengang, Joseph-Brot und selbst geschlagene Rohmilchbutter erinnern daran, wie man einfach und qualitätsbewusst essen kann.

Wie weit die Zubereitung von Gemüse gehen kann, zeigt ein Miteinander aus Schwarzwurzel (dehydriert und rehydriert), Koji und Radicchio: würzig, balanciert, ungesehen. Aus Gemüse und Pilzen bereitet die Küche eine tiefgründige Consommé zu, darin in kleinen quadratischen Türmchen schichtweise angerichtetes, verschiedenartig fermentiertes Kraut. „Früher habe ich mit Lieferanten gern um Cents gefeilscht,“ erinnert sich Ivić zurück. „Heute zahle ich einfach, was verlangt wird, und wir sehen zu, dass wir alles davon verarbeiten. Mit Demut und Dankbarkeit.“ Nebenbei: Fleischersatzprodukte interessieren den Tian-Koch nicht.

Auf nichts verzichten. Das Publikum des Tian beschreibt Paul Ivić so: „Das sind Leute, die auf nichts verzichten wollen. Das ist auch unser Zugang.“ Besitzer Christian Halper subventionierte das Lokal in den ersten zwei Jahren noch, dann war das nicht mehr notwendig. „Mir ist es privat egal, ob Fisch oder Fleisch oder vegan, wenn es mich berührt, ist es gut. Beim ersten Besuch bei Michael Bauer fragte ich mich, warum dieser Salat so unglaublich gut schmecken kann. Bauer sagte: ,Der Salat ist fünf Minuten alt.' Alles klar.“ Das bedeutet, dass bei Gemüse die Frische sogar noch wichtiger ist als bei Fisch. „Gemüse verzeiht auch kein schlechtes Öl, es ist empfindlich.“

Ivić serviert einen Teller mit Morcheln, einmal gebraten, dann gegrillt, Spargel, einmal sautiert in Wacholderöl, einmal blanchiert und als Julienne gebacken, und ein Jus aus Spargeln, Morcheln und Waldmeisteröl. Auf ein Gericht wie dieses muss man lang warten, wenn sich der Winter mit dem Nachhausegehen Zeit lässt. Zum Frühling gehören auch Jungzwiebel und Bärlauch. Ein mit Bärlauch gefärbtes, hauchdünnes Raviolo umschließt ein Eigelb, darunter das Eiweiß mit den Jungzwiebeln und eine schaumige Sauce aus der Jungzwiebel mit Bärlauchöl, Prädikat: göttlich. Die als nächster Gang servierten, ohne Panier gebackenen Jungzwiebel können diese Idee nicht mehr übertreffen. Man ist ihnen nicht böse.

Wer Paul Ivić sagt, muss im Übrigen auch Thomas Scheibelhofer sagen, der seit Anbeginn für die süße Seite des Tian verantwortlich ist, etwa mit Buchteln mit Powidl und Magnolien und einer Sauce aus Brioche und Vanillesauce. Es fehlt den Gästen an nichts im Tian. Und es überrascht, wenn sich Österreichs bester Gemüsekoch am Ende zu der Feststellung hinreißt: „Mit einem schönen Stück Fleisch kann man schneller jemanden beeindrucken.“ Irgendwann wird Paul Ivić sich und seine Gäste davon überzeugen, dass das schon lang nicht mehr stimmt.

Steckbrief

Paul Ivić (rechts im Bild mit André Drechsel, Sommelier des Tian) hat in Restaurants in Österreich, der Schweiz und Deutschland gelernt und gearbeitet.

2011 wird er als Küchenchef und Geschäftsführer Teil des Tian, das Christian Halper in der Himmelpfortgasse in Wien gründet.

2014 erhält das Tian einen „Michelin“-Stern, für seinen Zugang zur Nachhaltigkeit wird es auch mit einem grünen Stern ausgezeichnet.

2015 eröffnet Ivić das Tian-Bistro am Spittelberg, er veranstaltet zudem Pop-ups in Zadar oder Zürs am Arlberg.

Drei Kochbücher hat Paul Ivić bis dato herausgebracht, privat ist er verheiratet und Vater zweier Kinder.

Carolina Frank

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2023)

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