Roths letzter Roman „Nemesis“: Schuldig werden wie Ödipus

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Rezension: Schicksal, Zufall? „Nemesis“ – der Tod von Kindern lässt Philip Roth Fragen in der Dimension antiker Tragödien stellen.

Philip Roth hat Figuren wie David Kepesh und Nathan Zuckerman für mehr als ein Werk erschaffen – und mit ihnen die Begierden. Nicht nur Professor Kepesh liebte den Sex. Doch mit ihrem Schöpfer wurden die Figuren auch alt, mit allem, was dazugehört: Zuckerman plagten zuletzt, in „Exit Ghost“, Impotenz und Inkontinenz. Die Themen Alter und Tod scheinen drängender zu werden als die Begierden. „Es war einmal, da war ich ein ganzer Mensch.“

Ein ganzer Mensch zu sein bedeutete für den Protagonisten in „Jedermann“, der nach seinem Tod auf das Leben zurückblickt, etwa schnellen Sex mit der Sekretärin. Die Zeiten sind vorbei. Doch wenn auch Roths neues schmales Werk nicht durch diesbezüglichen Aktivismus auffällt, so gibt es dennoch genug Potenzial für „Empörung“, um einen weiteren Roth-Titel zu zitieren.

Die Sprache des Erzählers allerdings stockt nicht. Der Schrei, zu dem der Protagonist selbst wird, bleibt seltsam stumm. Noch nicht einmal das Hadern mit Gott ist besonders ausfällig, sieht man von Formulierungen wie „Zweifaltigkeit“– die Vereinigung eines perversen Arschlochs mit einem bösartigen Genie – einmal ab. Dabei gäbe es Grund genug aufzubegehren, denn es gibt ja kaum Schlimmeres als den Tod eines Kindes.

In Roths neuem Roman sterben gleich mehrere Kinder, denn in der amerikanischen Stadt Newark bricht im Jahr 1944 Polio aus. So erfindet es Roth. Jahrzehnte zuvor hat die Krankheit schon in den USA gewütet, und was die Situation noch schlimmer macht: Man weiß nicht, wie diese Krankheit übertragen wird. Diese Unsicherheit treibt nicht nur sonderbare, sondern auch gefährliche Blüten: Wo die Ursache unbekannt ist, wird schnell nach Schuldigen gesucht; wo man Angst hat, kommt es schnell zu inhumanen Gedanken und Werken. Wer bei der Lektüre nicht an Albert Camus denkt, hat „Die Pest“ nie gelesen.

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