Wort der Woche

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: Diese Binsenweisheit wird in der Wissenschaft als Emergenz bezeichnet. Ein umstrittener Begriff – mit großen Konsequenzen.

Von Aristoteles ist folgender Satz überliefert: „Eine Silbe ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile.“ Eine Silbe besitzt demnach eine Eigenschaft, nämlich eine Bedeutung, die in den Buchstaben nicht vorhanden ist. Allgemeiner formuliert: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Ähnliche Gedanken ziehen sich durch die ganze europäische Geistesgeschichte. Im 19. Jahrhundert bekam die Idee einen Namen: Emergenz. Eigenschaften, die sich nicht aus den Eigenschaften der Einzelteile ableiten lassen, heißen „emergent“.

Allerdings: Eine exakte Definition ist schwierig, der Begriff wird in verschiedensten Bedeutungen verwendet – noch dazu hat er im Englischen eine sehr allgemeine alltagssprachliche Bedeutung („auftauchen, entstehen“). In der Natur gibt es jedenfalls viele Beispiele für Emergenz. So besitzt ein Proteinmolekül Eigenschaften, die keines der Atome aufweist, aus denen es zusammengesetzt ist. Oder, wie Konrad Lorenz in seinem Bestseller „Die Rückseite des Spiegels“ ausführte: Wenn ein Kondensator und eine Spule zusammengeschaltet werden, dann entsteht ein Schwingkreis – obwohl keiner der Bauteile Schwingungen erzeugen kann.

Im Zeitalter des Reduktionismus, des dominierenden Denkmusters des 20. Jahrhunderts, setzte sich bei den meisten Forschern die Überzeugung durch, dass sich alle Phänomene aus den Eigenschaften der Bestandteile ableiten ließen – wenn man diese nur gut genug kenne. Die Systemtheorie hat diese Ansicht zerschmettert: Ein ausreichend komplexes System (definiert durch Elemente mit Eigenschaften, die in Wechselwirkung treten) kann ein Verhalten zeigen, das nicht vorhersagbar ist.

Vor allem Hirnforscher haben diese Idee aufgegriffen, denn sie bietet eine elegante Erklärung für kognitive Vorgänge: Wenn viele Nervenzellen zusammenspielen, dann zeigen sie ein komplexes Aktivitätsmuster, das sich als materielle Entsprechung von Denkvorgängen interpretieren lässt. Damit kann man im alten Leib-Seele-Problem eine bequeme Mittelposition einnehmen: Man muss einerseits nicht annehmen, dass es eine übernatürliche Quelle des Geistes, etwa einen „göttlichen Funken“, gibt. Und man muss sich andererseits auch nicht dem Determinismus hingeben – mit der Folge, dass es etwa keinen freien Willen gibt.

Die Anschauung ist derzeit populär. Doch es gibt einen gewichtigen Einwand: Es könnte ja sein, dass man in Zukunft Eigenschaften der Neuronen findet, die sehr wohl Phänomene einer höheren Ebene erklären. Dann wäre die Rede von „Emergenz“ eine bloße Entschuldigung dafür, dass man die Gesetzmäßigkeiten einfach nicht erkannte.

martin.kugler@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2011)

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