Großbritannien: „In einer Wohnung leben geht nicht“

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Nahe London, in der Grafschaft Essex, steht die Räumung einer riesigen, angeblich illegalen Siedlung der „Irish Travellers“ an. Ein fahrendes Volk, das sich als „irische Zigeuner“ versteht.

We won't go“ („Wir werden nicht gehen“) steht auf einem Banner über der Einfahrt zur „Dale Farm“, einer abgelegenen Siedlung aus Wohnwagen und hölzernen Bungalows in der Grafschaft Essex, östlich unweit von London. Ein paar Kinder turnen auf einer provisorischen Schaukel aus Gummireifen herum, Hunde ohne Halsbänder schnüffeln an Mülltonnen, eine ältere Frau in ärmellosem T-Shirt und Leggings führt einen Kameramann über das Gelände.

In der kühlen Spätsommerluft liegt ein Hauch von Endzeitstimmung: Rund 1000 sogenannte „Irish Travellers“ leben auf diesem ehemaligen Schrottplatz am Rand von Basildon, einer „Planstadt“, wo übrigens 1980 die berühmte Synthesizerpopband „Depeche Mode“ gegründet wurde. Doch zwischen 250 und 400 dieser Travellers droht die Zwangsräumung: Nach Auffassung der Stadtverwaltung haben sie sich mit ihren Caravans einst ohne Genehmigung auf dem Grüngürtel um die Stadt niedergelassen.

Honorige Fürsprecher

Der jahrelange Streit um Dale Farm und das Schicksal der Irish Travellers, eine Art irischer Zigeuner, ist inzwischen zu einer „Cause célèbre“ geworden: Die Schauspielerin und Unicef-Botschafterin Vanessa Redgrave etwa kommt bisweilen zu Besuch und hat die anstehende Räumung als „illegal und unmenschlich“ verdammt. Sogar die zuständigen Bischöfe der anglikanischen und der katholischen Kirchen verbindet bei dem Thema seltene Eintracht.

„Wenn man bedenkt, dass hier viele Kinder und ältere Menschen leben, dass dieses Gelände früher ein Schrottplatz war und dass für die Räumung über 18 Millionen Pfund verschwendet werden sollen, dann ist die Haltung der Stadt und der Regierung noch weniger zu verstehen “, so Thomas McMahon, katholischer Bischof von Brentwood, zur „Presse“. „Das hier ist die größte Zigeunersiedlung in Europa – und ich fürchte, sie wollen an ihr ein Exempel statuieren.“

(c) DiePresse

„Uns will keiner haben“

„Wir sind Zigeuner, uns will keiner haben“, sagt Michelle (34) mit einer Mischung aus Trotz und Resignation, während sie in der Kombüse ihres Wohnwagens Brei für ihren Jüngsten (18 Monate) rührt. Die alleinerziehende Mutter lebt seit zehn Jahren mit ihren vier Buben hier. Auf jeder freien Fläche stehen Kristallvasen und -Schalen, ein Trockenblumenstrauß ziert den Campingtisch. Plastikfolie schützt die rot-beigen Polstergarnituren, die nachts zu Betten werden. „Wir haben das Land gekauft, das hat uns viel Geld gekostet“, erzählt Michelle. „Wir wussten nicht, dass es zum Grüngürtel gehört.“

Weltweit leben rund 100.000 Irish Travellers – wobei die Wurzeln dieses fahrenden Volkes umstritten sind. Eine Theorie sagt, sie seien Nachfahren von Landarbeitern, die durch Oliver Cromwells Irland-Feldzug im 17. Jahrhundert obdachlos wurden (Cromwell, 1599-1658, war nach dem Sturz von König Charles I. bzw. dessen späterer Hinrichtung 1649 republikanisches Staatsoberhaupt von England, Schottland und Irland, auch „Lordprotektor“ genannt, Anm.). Nach einer anderen These soll es das gälisch-irische Volk, das eine eigene Sprache („Shelta“) spricht, seit dem fünften Jahrhundert geben. Michelle weiß nur, dass sie in einem Wohnwagen zur Welt kam und sich ein Leben in einer normalen Wohnung nicht vorstellen kann.

Diskriminierung gehört zum Alltag der Travellers, erzählt Michelle ohne Selbstmitleid: „Es gibt ein paar Pubs, in denen wir nicht bedient werden. Und im Laden läuft immer einer hinter mir her, um sicherzugehen, dass ich nichts klaue. Am Anfang waren die Leute schlicht geschockt, dass wir hier sind. Mittlerweile haben sie sich daran gewöhnt.“

Nachbar wollte schießen

Doch das gilt nicht für alle: Ein Nachbar griff Ende voriger Woche zur Waffe und drohte über den Zaun zu schießen. Er wurde festgenommen. Und in den Leserbriefen der lokalen Tageszeitung wird gerne gegen die angeblich „kriminellen, rechtlosen Parasiten“ gehetzt.

Heute läuft die Räumungsfrist für die „Zigeuner“ ab, Mitte September sollen die Bagger kommen – wenn nicht ein Gericht Aufschub gewährt. Ein Sprecher der Stadtverwaltung insistiert gegenüber der „Presse“, dass die Aktion weder diskriminierend noch rassistisch sei – es gehe nur darum, „dass alle Leute fair und gleich behandelt“ würden: „Das ist ein Disput um Genehmigungen, nicht um einen Lebensstil. Es geht darum, dass Gesetze respektiert werden müssen.“ Eine nachträgliche Umwidmung des Geländes schließt die Stadtverwaltung aus – und weist darauf hin, dass in ihrem Bezirk schon weit mehr legale Plätze für Travellers genehmigt wurden als in benachbarten Verwaltungen.

Bischof McMahon dagegen meint, dass der Kampf um Dale Farm mehr ist als nur ein Streit um Baugenehmigungen. „Unsere westliche Gesellschaft gibt angeblich soviel auf die Rechte von Minderheiten. Und jetzt gibt es hier vor unserer Haustür eine Minderheit, die unseren Schutz braucht. Und wir gewähren ihn nicht.“

Lexikon

Irish Travellers sind ein fahrendes Volk mit irischen Wurzeln, sie nennen sich mitunter selbst „irische Zigeuner“. Weltweit leben etwa 50.000 bis 100.000, und zwar praktisch ausschließlich in Irland (ca. 23.000), Großbritannien (15.000-30.000), den USA (10.000 bis 40.000) und Kanada. Sie sind mehrheitlich katholisch, sprechen eine eigene alte Sprache mit gälischen Wurzeln und kämpfen mit denselben Problemen wie etwa Roma und Sinti (schlechte Bildung, Armut, mangelnde Integration).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2011)

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