Der belgische Wissenschaftler Stephan de Spiegeleire fordert ein radikales Umdenken in der europäischen Verteidigungspolitik: eine Abkehr von rein konventionellen Waffensystemen.
Alpbach. „Überall in der Welt ist Korruption zu einem Sicherheitsproblem geworden“, warnt der belgische Wissenschaftler Stephan de Spiegeleire im Gespräch mit der „Presse“. Dafür seien neue intelligente Formen der Verteidigung notwendig. Aber die europäischen Staaten setzten in ihrer Sicherheitspolitik nach wie vor fast ausschließlich auf konventionelle Waffensysteme wie Panzer oder anderes schweres Gerät. Gerade das Beispiel Korruption zeige, dass hier eine eine „neue Balance“ mit „neuen Technologien“ notwendig sei. „Eine Anti-Korruptions-Einheit aufzustellen bedeute letztlich einen ähnlichen Aufwand wie die Entwicklung eines neuen Kampfjets: Grundlagenforschung, Expertenwissen und langfristige Investitionen. Aber dafür gebe es in Europa weder Geld noch Willen.
De Spiegeleire, der am diesjährigen Forum Alpbach teilnahm, hat Erfahrungen bei der Modernisierung der Verteidigungspolitik kleiner und mittlerer Staaten gesammelt. Zuletzt beriet er die niederländische Regierung bei der Reform ihres Verteidigungssystems. Den Haag hat das Militärbudget um rund ein Achtel gekürzt, das Militär radikal umgestaltet. Ganze Einheiten wurden aufgelöst.
Bisher seien die Reformen in den europäischen Armeen rein nach der „Käsehobel-Methode“ abgewickelt worden, kritisiert de Spiegeleire. „Es gab ein bisschen weniger hiervon und etwas weniger davon.“ Aber das System konventioneller Modelle blieb gleich. Es sei lediglich eine ideologische oder politische Entscheidung gewesen, welche Verschiebungen es jeweils darin gab.
Cyber-Einsätze möglich machen
Angesichts der Schuldenkrise hat sich diese Situation aber verändert. Es gehe heute um eine Neudefinition. „Die Krise ist eine Chance, völlig umzudenken.“ Die Verteidigungsplanung müsse sich von einigen konventionellen Waffen wie Panzern verabschieden. Bisher ging es immer nur um schweres Gerät, für das heftig lobbyiert wurde. Es gab deshalb auch kein Geld für Maßnahmen, die den europäischen Staaten wirklich mehr Sicherheit bringen, wie etwa die Entsendung von Verfassungsexperten nach Afrika, um dort nach Umbrüchen beim Aufbau moderner, demokratischer Staatswesen mitzuwirken. De Spiegeleire: „Wir brauchen breite Fähigkeiten. Zum Beispiel die rechtliche Friedenssicherung.“ Einen Nachholbedarf gebe es aber auch bei der Nutzung des Internets. Statt gefährliche Angriffe mit Kampfjets zu fliegen, müsse über alternative Cyber-Einsätze nachgedacht werden.
Keinen Zweifel lässt der belgische Sicherheitsexperte, dass die Zukunft bei einem Berufsheer liegen werde – auch in Österreich. „Die meisten Länder, die sich diese Frage gestellt haben, sind zum Schluss gekommen, dass dies letztlich ein positiver Schritt ist.“ Ein Berufsheer sollte aber nicht bedeuten, dass breite Bevölkerungsgruppen vom Sicherheitskonzept ausgeschlossen werden. Denn es gebe Experten oder Privatunternehmen, die ihren Teil beitragen könnten. „Es ist ja nicht notwendig, ihnen allen gleich eine Uniform zu verpassen und sie in ein teures Pensionssystem einzugliedern.“
Ein neues Sicherheitssystem müsste ressortübergreifend funktionieren. „Es sollte aufgebaut werden wie ein Smartphone: Der Staat stellt die Hardware zur Verfügung. Die Apps werden aber von den unterschiedlichen Gruppen entwickelt.“
De Spiegeleire warnt davor, allein auf eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik zu setzen. „Das Problem ist, es gibt derzeit keine multinationale Sicherheitspolitik. Es gibt nur nationale Sicherheitssysteme, die in einer multinationalen Organisation wie der Europäischen Union oder der Nato zusammenarbeiten.“
Die Verantwortung der Nationalstaaten könne nicht dorthin abgeschoben werden. Die EU-Sicherheitspolitik sei bisher eher armselig. Viele Mitgliedstaaten arbeiten bereits in der Nato zusammen, wo auch die USA mit ihren Kompetenzen eingebunden seien. „Diese EU-Staaten haben kein Interesse dran, ihr Engagement zu duplizieren.“
Zur Person
Stephan de Spiegeleire ist leitender Wissenschaftler des Haager Zentrums für strategische Studien (HCSS). Der Belgier begann seine Tätigkeit als Russland-Experte und befasst sich heute vor allem mit sicherheitspolitischen Fragen. Seit Jahren beschäftigt er sich mit einer Neuausrichtung der Verteidigungsplanung europäischer Länder. Er arbeitet mit der Nato ebenso zusammen wie mit der niederländischen Regierung, für die er federführend Optionen für neue Verteidigungsstrategien ausarbeitete. [Ultsch]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2011)