Tschaikowskys "Pathétique" muss nicht kitschig klingen

Es ist nicht leicht, in der russischen Musik zur Wahrheit vorzudringen. Wladimir Fedosejew schafft Atmosphäre jenseits des Wunschkonzerts.

Die Russen. Ich glaube, mit keiner musikalischen Tradition ist so viel Schindluder getrieben worden wie mit der russischen. Unsere wienerische Musiziertradition ist zwar vor Verfälschungen auch nicht gefeit. Ganz im Gegenteil. Echte Wiener halten sich schon die Ohren zu, wenn in der Nähe von St. Pölten jemand sich am Dreivierteltakt vergreift.

Aber was die russische Musik an Verballhornung und Verkitschung ertragen musste und muss, das spottet jeder Beschreibung. Westliche Kommentatoren sind mit Verurteilungen von Komponisten aus Moskau oder St. Petersburg schnell bei der Hand. Tschaikowsky oder Rachmaninow? Kitsch.

Die Film- und TV-Industrie sorgt seit Jahr und Tag dafür, dass dieses Vorurteil am Köcheln bleibt. Und angesichts vieler Interpretationen der „Pathétique“ oder der Rachmaninow-Klavierkonzerte ist man geneigt, den selbst ernannten Ästhetikrichtern zumindest mildernde Umstände zuzugestehen. Auch reisende russische Interpreten neigen nicht selten zu haltlosen Übertreibungen – auch in Sachen Lautstärke. Die CD-Industrie verkauft auch deren Produkte dann gern und mit Erfolg.

Es ist nicht leicht, zur Wahrheit vorzudringen. Aber ältere Konzertbesucher, die sich noch erinnern, wie das war, als Jewgeni Mrawinsky mit seinen Leningradern in den Westen kam, können ein ganz anderes Lied singen: Tschaikowskys große Symphonien klangen bei diesem Interpreten alles andere als kitschverdächtig. Selbst dort, wo die großen lyrischen Melodien aufblühen, blieb ein Rest von Herbheit. Und die wilden, leidenschaftlichen Ausbrüche blieben stets klare, fast klassizistisch in ihrer Formgebung. Ausdruck ja, aber in kunstvoller Ausprägung – das war die Botschaft.

Sie wurde gehört, von fast allen Nachfolgern Mrawinskys aber bewusst missdeutet und oft in ihr Gegenteil verkehrt. Deshalb war es für viele Hörer ein einschneidendes Erlebnis, als Wladimir Fedosejew mit seinem Moskauer Rundfunkorchester in den Achtziger Jahren mit seinen regelmäßigen Gastspielen begann. Mit Recht verlieh man diesen Musikern vor einigen Jahren den Titel „Tschaikowsky Symphonieorchester“, denn niemand verwaltet das Erbe der großen russischen Musiziertradition besser als sie.

Fedosejew ist einer der ganz wenigen Musikerpersönlichkeiten, die von den Werken russischer Meister jegliche Wunschkonzertattitüde fernhalten. Dass er dieser Tage mit seinem Orchester in Wien nebst Tschaikowsky auch Schostakowitsch präsentiert, sollte noch neugieriger machen als sonst: hier die angeblich haltlose Romantik, da der verzweifelte Kampf gegen politische Indoktrinierung und parteipolitische Gehirnwäsche. Das eine ist rasch verdammt, das andere auf ein Podest jenseits ästhetischer Kriterien gehoben – wo bleibt die Musik? Hören wir zu, wenn die wirklichen Könner sie uns vorspielen! (Heute und morgen Abend, Musikverein, großer Saal, 19.30 Uhr)

E-Mails an: wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.09.2011)

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