Reeperbahn: Der "Wiener" von St. Pauli

Reeperbahn Wiener Pauli
Reeperbahn Wiener Pauli(c) APA (Oliver Soulas)
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In den 1980er-Jahren schockiert eine Mordserie Hamburg. Ein Killer räumt einen Zuhälter nach dem anderen von der Reeperbahn. Einer seiner Auftraggeber ist Österreicher, der "Wiener Peter".

Plötzlich fallen Schüsse – und „Chinesen-Fritz“ vom Barhocker. Drei Kugeln stecken in Fritz Schroers Körper. Der Zuhälter, der seinen Spitznamen seinen schmalen Augen verdankt, ist sofort tot. Eigentlich war er in die „Ritze“, den damaligen Szenetreff der Hamburger Rotlichtgrößen gekommen, um dort seinen Geschäftspartner zu treffen. Die Zuhälter hatten etwas zu besprechen: Im gemeinsamen Laufhaus „Palais d'Amour“ schafften Prostituierte für die beiden an. „Nach den Erkenntnissen der Polizei wollte „Chinesen-Fritz“ sich von seinem Partner trennen, er wollte ausbezahlt werden“, erinnert sich der ehemalige Ermittler Max van Oosting. Für die Ermittler steht bald außer Frage, dass es sich um einen Auftragsmord gehandelt haben muss.

Hamburg schreibt das Jahr 1981. In den kommenden Jahren erschüttert eine Reihe von Morden die Reeperbahn. Die Ereignisse sind bis heute Thema in deutschen Medien. Die „Hamburger Morgenpost“ bringt im Sommer 2011 eine Artikelserie, der Norddeutsche Rundfunk (NDR) strahlt zur selben Zeit die Dokumentation „Als die Killer auf den Kiez kamen“ aus. In Hamburgs Polizeimuseum, das offiziell erst 2012 eröffnen soll, ist der blutigen Zeit Ausstellungsteil gewidmet. Die Morde sind wie die Kaufhauserpressungen Arno Funkes („Dagobert“) und die gefälschten Hitler-Tagebücher Teil der deutschen Kriminalgeschichte.

Anfang der 1980er-Jahre müssen sich Hamburger Politiker wie Polizisten erstmals eingestehen: Es gibt das organisierte Verbrechen nicht nur in den Großstädten Amerikas, sondern auch in Deutschland. An der Spitze steht damals unter anderem ein junger Klagenfurter, der sein Leben in Kärnten hinter sich gelassen hat und über Berlin nach Hamburg gekommen ist. Josef Peter N. taucht im Milieu auf – und als Kellner ein. Das will er allerdings nicht bleiben, er will ganz nach oben, um jeden Preis. Er ist es, der in der „Ritze“ neben „Chinesen-Fritz“ sitzt, als dieser vom Hocker geschossen wird. Er „erbt“ die Anteile seines Geschäftspartners. Dass N. zwar Österreicher, aber kein Wiener ist, sehen die deutschen Zuhälter nicht so eng. Sie nennen ihn schlicht: „Wiener Peter“.

Mit Schmäh und Charme. Aus dieser Zeit gibt es von ihm, dem „Wiener“, nur wenig Bildmaterial. Ein erhaltener Filmausschnitt zeigt einen gut aussehenden, jungen Mann. Er trägt sein braunes Haar schulterlang. Die oberen Knöpfe seines Hemds geöffnet, die Zigarette im Mundwinkel. Am Handgelenk eine goldene Rolex, im Gesicht ein verschmitztes Lächeln. Er wirkt selbstsicher, hat Schmäh. Den Hamburgern dürfte er damit imponiert haben. Vor allem den Frauen.

Vom „Wiener“ hört man in Hamburg zum ersten Mal im Jahr 1972. Er ist gerade einmal 22 Jahre alt. Zu dieser Zeit erreicht das Geschäft mit der Liebe seinen Höhepunkt. In den fetten Jahren ist es für die Hamburger Zuhälter üblich, sich Berge von Muskeln anzutrainieren, Kampfsport zu betreiben und in Kneipen wie der „Ritze“ am Sandsack zu trainieren. Bis heute steht in ihrem Keller ein Boxring, in dem sogar die Klitschko-Brüder die Fäuste fliegen ließen. Der zugereiste Österreicher aber hat ein anderes Rezept: „Der Wiener Peter war kein muskulöser Brechertyp, der war schmal“, sagt Björn Platz, Autor jener Dokumentation über den Kiez, die im Sommer im NDR lief. „Er hat Prostituierte mit seinem Charme angeworben, darauf hat er sein Imperium begründet“, sagt Platz.

Bordell mit 240 Zimmern. Nach kurzer Zeit ist der „Wiener“ am Kiez so mächtig geworden, dass er das „Palais d'Amour“, ein Laufhaus mit fünf Etagen und 240 Zimmern, gemeinsam mit seinem Partner „Chinesen-Fritz“ betreibt. Das Großbordell liegt direkt an der Reeperbahn, auf halbem Weg zwischen Hans-Albers-Platz und der Partymeile „Große Freiheit“. „Er hat es mit Geschäftstüchtigkeit, mit Kontakten und mit seinem Charme geschafft, Karriere zu machen“, sagt Platz. Für Macht und Geld ist der „Wiener“ auch bereit, den langjährigen St. Pauli-Kodex zu entweihen. Machte bisher einer der harten Kerle Probleme, musste er zwar mit Prügeln rechnen, aber nicht um sein Leben fürchten. Dass sich der Neue nicht daran hält, spricht sich herum. Bald heißt es am Kiez: Vom „Wiener“ trennt man sich nicht, vom „Wiener“ wird man getrennt. Währenddessen zieht er unbehelligt auf der Reeperbahn seine Runden: teure Autos, protzige Mäntel. Auffallen um jeden Preis.

Zu Beginn der 1980er-Jahre – der „Wiener“ ist bereits gut im Geschäft – brodelt es unter der Oberfläche immer mehr. Über den Seeweg erreicht weißes Pulver Hamburgs Docks und den Kiez. Statt Alkohol und Gras konsumieren die Zuhälter das „Neue“: Kokain. „Was den Kiez und das Verhalten untereinander insbesondere veränderte, war das Nasenpulver“, erinnert sich Exermittler Max van Oosting. „Nasen verbinden oder entzweien. Wir wissen ja, wie Drogenfreundschaften laufen.“

Da passiert es, dass ein Unbekannter „Chinesen-Fritz“ vom Hocker schießt. Wenig später wird ein weiterer Zuhälter, der „schöne Mischa“, erhängt aufgefunden. Selbstmord? Es sieht so aus, aber man weiß es nicht. Die Begräbnisse der Rotlicht-Größen erinnern auf den vorhandenen Videomitschnitten an Mafiafilme wie Francis Ford Coppolas „Der Pate“. Alle legen sie zusammen, alle kommen sie, um dem verstorbenen Kollegen die letzte Ehre zu erweisen. Bei der Beerdigung des „schönen Mischa“ trägt der „Wiener Peter“ eine schwarze Pilotenbrille und einen beigen Kaschmirmantel. Er wirft Rosen ins offene Grab.

Die Polizei reagiert. 1982 wird Deutschlands erste Dienststelle für OK, für organisierte Kriminalität, eingerichtet. Es ist die Geburtsstunde der professionellen verdeckten Ermittlung in der Bundesrepublik. Noch ist Hamburgs Polizei aber mit sich selbst beschäftigt. „Es gab auch Vorwürfe gegen Polizeibeamte: Sie würden gemeinsame Sache mit V-Leuten, ihren Informanten aus dem Milieu, machen. Teilweise wären Leute ums Leben gekommen, wo die Polizei die Finger im Spiel gehabt hätte“, erinnert sich Max van Oosting. 1982 stößt der frisch gebackene Kriminalkommissar zur neu gegründeten Sonderkommission. Der schlimmste Tag seines Lebens liegt da noch vor ihm.

Nicht nur die Kokainflut ist schuld daran, dass die Zeiten auf der Reeperbahn härter und brutaler werden. Eine mysteriöse Krankheit breitet sich aus. Das HI-Virus hat Hamburg nicht verschont, erste Fälle von Aids werden bekannt, Prostituierte und Freier haben Angst. Das Geschäft bricht ein, weil die Kundschaft ausbleibt. Zu dieser Zeit trifft der geschäftstüchtige „Wiener Peter“ auf einen Mann, nach dem heute ein Cocktail mit fünf Sorten Rum benannt ist: der St. Pauli-Killer, Werner „Mucki“ Pinzner. Der „Wiener“ kommt mit ihm ins Geschäft: Für 20.000 Mark, soviel bekommt er für seinen ersten Auftrag, soll Pinzner seine Gegner „wegmachen“.

Fünf tote Zuhälter. Innerhalb von neun Monaten sterben fünf Zuhälter, alle aus nächster Nähe erschossen. Im Juli 1984 wird Jehoda Arzi, der Puffs von der Nordsee bis nach Bayern besitzt und offenbar zu mächtig geworden ist, tot in seiner Kieler Wohnung, etwa eine Autostunde nördlich von Hamburg, aufgefunden. Im September 1984 erschießt Pinzner den Zuhälter und Kokaindealer Peter Pfeilmeier („Bayern-Peter“) von der Rückbank von dessen Pontiac Firebird aus. Der „Wiener Peter“ steigt später in sein Geschäft ein.

Es dauert nicht lange, und die Hamburger Kripo wird zu einem Tatort in der Nähe von München gerufen. Dort liegt der norddeutsche Zuhälter Dietmar Traub alias „Lackschuh-Dieter“. In einem Waldstück war er regelrecht hingerichtet worden. Ostern 1985, ein Doppelmord. Die Opfer: Waldemar Dammer („Neger-Waldi“) und Ralf Kühne („Corvetten-Ralf“), zwei weitere Zuhälter. In fast allen Fällen finden die Kriminaltechniker dasselbe Muster: 10-Züge-Rechtsdrall nennen sie die Spuren, die ein und dieselbe Waffe auf den Projektilen hinterlassen hat. Ein Arminius-Revolver Kaliber .38. Pinzner hatte ihn im Gefängnis Fuhlsbüttel, besser bekannt als „Santa Fu“, bekommen, nach der ersten Tat sogar wieder in seinem Spind abgelegt, nachdem er von seinem Ausgang zurück in die Strafvollzugsanstalt gekommen war.

Die SOKO 855, später nur noch SOKO Pinzner genannt, ermittelt mit Hochdruck. Die Kripobeamten vernehmen Prostituierte nach Prostituierter, Zuhälter nach Zuhälter. Doch ihr entscheidender Trumpf ist die Angst, die im Milieu umgeht: Jeder könnte das nächste Opfer sein. „Aus der Atmosphäre der gegenseitigen Bedrohung, einer Situation, in der jeder den anderen umlegen wollte, ist dann einer vorgeprescht und hat eine Aussage gemacht, die eine Tür geöffnet hat“, sagt van Oosting. „Jetzt war es so weit.“

Verhängnisvolles Geständnis. Vor rund 25 Jahren, im April 1986, klicken für Werner Pinzner, den „Wiener Peter“ und einen weiteren Komplizen die Handschellen. Monatelange Verhöre beginnen, in denen der St. Pauli-Killer fünf Morde gesteht. Auch den „Wiener“ nennt er als seinen Auftraggeber. Doch Pinzner will noch mehr sagen, noch mehr zugeben, wenn er nur noch einmal 24 Stunden mit seiner Frau Jutta zusammen sein kann. Die Polizei kommt dem Wunsch nach langem Hin und Her und unter Beobachtung nach.

Am 29. Juli kommt es dann schließlich zur letzten Vernehmung. Was Max van Oosting und der zuständige Staatsanwalt Wolfgang Bistry nicht wissen, als sie Pinzner, dessen Frau und dessen Anwältin in den Raum 418 führen: Pinzner hat schon längere Zeit den gemeinsamen Selbstmord mit seiner Frau geplant – und auch die Rechtsanwältin steckt mit dem Killer unter einer Decke. Der Plan geht auf: Seine Frau Jutta schmuggelt eine Smith & Wesson, eingewickelt in ihren Slip, ins Polizeipräsidium. Als das Verhör beginnt, zieht Pinzner den Revolver und ruft: „Das ist eine Geiselnahme!“ Doch es wird ein Blutbad. Van Oosting und ein Kollege stürmen aus dem Raum. Schüsse. Pinzner trifft den Staatsanwalt in den Kopf, bevor sich seine Frau niederkniet, er ihr den Lauf in den geöffneten Mund steckt und abdrückt. Dann schießt sich der St. Pauli-Killer vor den Augen seiner Anwältin und einer Protokollführerin selbst eine Kugel in den Kopf.

»Exitus triumphalis«. Der Schock sitzt tief. Wie konnte so etwas passieren? Bis heute fällt es den Beteiligten schwer, über das Geschehene zu sprechen. „Das Polizeipräsidium als Tatort! Das ist ja eigentlich etwas Unvorstellbares“, erinnert sich van Oosting, der zusammen mit Einsatzkräften die Schüsse durch die verriegelte Tür hörte. „Es wird jemand aus der Haft vorgeführt, im Polizeipräsidium vernommen, im Zentrum der Polizei, und erschießt während der Vernehmung einen Staatsanwalt, seine Frau und sich selbst.“ Es ist der tragische Höhepunkt und gleichzeitig das Ende einer Serie von Morden, der „Exitus triumphalis“, wie es der Killer in einem Kalender, der ihm in der Haft als Tagebuch gedient hat, festhält.

Erst nach Pinzners Abgang werden die Ermittler feststellen, dass seine Anwältin ihren Mandanten im Gefängnis immer wieder mit Heroin versorgt und die Mordwaffe im Milieu besorgt hat. Sie wird später wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Hamburgs Innensenator und die Justizsenatorin treten zurück. Und des Killers oftmaliger Auftraggeber?

Mindestens vier Rotlicht-Rivalen ließ der „Wiener Peter“ durch den St. Pauli-Killer liquidieren. Das Urteil für den gebürtigen Kärntner: lebenslänglich. Wie noch wenige Jahre zuvor sein Handlanger Pinzner sitzt jetzt er seine Strafe in „Santa Fu“ ab. Nach 15 Jahren kommt er 2001 frei. Er lebt heute auf der spanischen Insel Ibiza. Bei der Altersangabe auf seinem Facebook-Profil macht sich der 61-jährige um zehn Jahre jünger. Ansonsten gibt er nicht viel Preis. Er entwickle Apps, antwortet er Björn Platz, dem Autor der NDR-Doku, auf die Frage, wovon er heute lebe. Er, der einst das Morden auf die Reeperbahn brachte, verdient heute Geld mit Handysoftware.

Über seine Zeit auf der Reeperbahn redet er nicht. Das alles ist schon lange her, 25 Jahre seit seiner Verhaftung, eine Ewigkeit. Das Blut ist längst getrocknet, die Opfer begraben und die Ermittler im Ruhestand. Doch da ist noch der Mord an „Chinesen-Fritz“. Der bleibt ungeklärt. Und was das angeht, sind 30 Jahre nicht genug: Mord verjährt nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2011)

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