In welche Richtung geht Ägypten?

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Neun Monate nach dem Sturz von Mubarak sind die Massenproteste wieder aufgeflammt. Was erwarten sich die Menschen in Kairo von der Zukunft? "Die Presse am Sonntag" fragte exemplarisch acht ägyptische Bürger.

Am 11. Februar dankte Ägyptens Langzeit-Herrscher Hosni Mubarak ab und übergab seine Macht dem Obersten Militärrat. Viele der Demonstranten von damals sehen sich in ihren Hoffnungen jedoch enttäuscht und gehen nun erneut auf die Straße. Die brutale Reaktion der Sicherheitskräfte scheint ihren Befürchtungen, es habe sich nichts geändert, recht zu geben: Bis Samstag starben mindestens 41 Demonstranten.

Wie wird es in Ägypten, wo am Montag die mehrwöchige Parlamentswahl beginnt, weitergehen? Das wird im Kräftespiel der gesellschaftlichen Gruppen und Schichten entschieden. „Die Presse am Sonntag“ hat exemplarisch acht Ägypter gefragt, in welche Richtung sich das Land entwickeln soll, und welche Mittel sie auf dem Weg dorthin für richtig halten.


Rasha

Die politische
Aktivistin
(24)


Rasha stammt aus Alexandria und organisiert den Wahlkampf einer liberalen Parlamentskandidatin, die maßgeblich an der Revolution beteiligt war: „Im Jänner war ich jeden Tag bei den Protesten auf dem Tahrirplatz, ich habe alle Kämpfe miterlebt, aber wir haben den Platz zu früh wieder verlassen. Es hat sich nichts verändert, außer, dass wir statt Mubarak nun Feldmarschall Tantawi haben. Ich möchte irgendwann auf die Straße gehen und Freiheit und Frieden in diesem Land sehen. Dafür werde ich kämpfen. Auch wenn ich keine Kraft mehr habe, sage ich mir immer wieder: Ich bin nicht müde, ich mache weiter! Manchmal denke ich, dass ich das Ende des Jahres nicht mehr miterleben werde, aber ich werde trotzdem nicht aufgeben.“


Hany Adly

Der verängstigte
Christ
(24)


Hany lebt in Imbaba, einem Bezirk Kairos, wo auch sehr arme Menschen wohnen, und in dem es bereits zahlreiche Übergriffe auf Christen gab. „Im Jänner wurde auf dem Tahrirplatz kein Unterschied zwischen Muslimen und Christen gemacht. Wir waren alle vereint gegen Mubarak. Inzwischen habe ich jedoch Angst vor der zunehmenden Islamisierung. Immer mehr Frauen in meinem Viertel sind vollverschleiert und man kann mit seiner Freundin nicht mehr einfach Hand in Hand durch die Straßen laufen. Die Muslimbrüder werden, wenn sie erst die Mehrheit haben, machen was sie wollen, und vor den Salafisten mit ihrem Steinzeitislam habe ich wirklich Angst. Sie waren immer eher unpolitisch, inzwischen haben sie jedoch sogar eigene Parteien. Das System Mubarak war nicht gut, aber zumindest war es säkularer.“


Ahmad Al Masri

Der konservative
Unternehmer
(41)


Ahmad, Eigentümer eines kleinen Brillengeschäfts, war weder zu Jahresbeginn noch jetzt auf dem Tahrirplatz, der nur etwa fünf Minuten Fußweg entfernt ist: „Es war furchtbar im Jänner, keine Polizei, keinerlei Sicherheit. Wir Ladenbesitzer haben eine Art Bürgerwehr gegründet und unsere Geschäfte gegen die Krawalle geschützt. Proteste sind in Ordnung, solange kein fremdes Eigentum beschädigt wird. Alle sollten sich jetzt beruhigen: Die Wahlen wären mit oder ohne Militärrat gekommen. Die Wirtschaft ist im Moment am Boden, aber weil das Überleben hier immer schon schwierig war, hält sich der gefühlte negative Effekt der Revolution in Grenzen.“


Amal Ghaly

Die verängstigte
liberale Muslimin
(23)


Amal arbeitet als Übersetzerin und lebt in einem sehr konservativ und religiös geprägten Viertel im Nordosten Kairos. „Ich übernachtete im Jänner einmal auf dem Tahrirplatz in einem Familienzelt. Es war so schön mit all diesen Menschen auf dem Platz zu sein. Keiner belästigte uns Frauen dort wie sonst so oft auf den Straßen hier in Kairo. Heute habe ich etwas Angst, dass die Islamisten die Wahlen gewinnen werden. In meinem Viertel hängt kein einziges Wahlplakat von liberalen Kandidaten, nur von den Muslimbrüdern und den Salafisten. Ohne Kopftuch kann ich nicht vor die Tür gehen, ohne scharf kritisiert zu werden. Aber meine Mutter gibt mir viel Kraft und versucht, mir so viele Freiheiten zu ermöglichen wie es geht. Man muss geduldig sein, sonst verzweifelt man.“


Mursi Ragab

Der nicht demonstrierende Muslimbruder
(28)


Mursi kam im Jänner mit vielen anderen Muslimbrüdern auf den Tahrirplatz, vor allem, um gegen die soziale Ungerechtigkeit und die Unterdrückung durch Mubarak zu demonstrieren: „Die Stimmung war einzigartig, ganz anders als heute – vielleicht weil wir alle ein einziges Ziel hatten. Wir Muslimbrüder sind kaum noch auf dem Tahrir, weil unsere Forderungen überwiegend erfüllt wurden. Der Militärrat hört auf uns. Wichtig ist, dass die Wahlen am Montag stattfinden. Inzwischen haben wir viele verschiedene politische Gruppen, wir werden dann nicht mehr nur vom Militärrat regiert werden. Das ist Demokratie.“


Ibrahim Haschisch

Der revolutionäre
Unternehmer (58)


Ibrahim leitet ein Unternehmen, das aus landwirtschaftlichen Abfällen Biosprit herstellt. Er ist sehr glücklich über den Beginn der Revolution im Jänner: „Die Menschen auf dem Tahrirplatz sind die Zukunft Ägyptens. Meine Firma läuft seither leider schlecht. Aber selbst wenn die Proteste noch drei Jahre weitergingen, würde ich sie unterstützen. Auch meine Arbeiter schicke ich auf den Tahrir zum Demonstrieren. Ich habe die Hoffnung, dass die Situation sich durch all diese aktiven jungen Leute bessern wird – so Gott will. Als nächstes müssen wir vor allem für Stabilität und Sicherheit sorgen.“


Abdullah

Der demonstrierende
Salafist
(59)


Abdullah gehört den Salafisten an, die einer wörtlichen Auslegung des Korans folgt. Mit seiner Gazemaske, die ihn soll vor Tränengas schützen soll, steht er vor einer Moschee am besetzten Tahrirplatz: „Ich hoffe, dass in Ägypten alles so gut läuft wie in Tunesien: dass die Wahlen korrekt durchgeführt werden und wir am Ende wirkliche Demokratie und Freiheit haben. Unsere zukünftigen Präsidenten sollten den Fußstapfen des Propheten Mohammed und seiner Mitstreiter folgen. Das bedeutet aber nicht, dass wir wie die Taliban werden sollen: deren Behandlung der Menschen ist gegen den Islam. Die letzten Jahre wurden wir von Gangstern und Dieben regiert! Ich hoffe, dass sich die Situation bald verbessert.“


Inschi El Abd

Die skeptische
Nachhaltigkeitsaktivistin
(24)


Inschi ist seit fast zehn Jahren in gesellschaftlichen Initiativen aktiv. Sie ist säkular und engagiert sich für Umweltschutz, Bildung und soziales Unternehmertum: „Im Jänner war ich auf dem Tahrirplatz und sehr enthusiastisch. Was die aktuellen Proteste angeht, bin ich skeptisch. Die Wahlen finden statt, aber ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, gewalttätig zu demonstrieren. Der Militärrat muss weg, aber ich denke, es muss nicht sofort sein und nicht um jeden Preis. Ich halte nichts davon, auf Facebook zu schreiben „ich bin stolz darauf, im Kampf gegen den Militärrat zu sterben“. Es kann auch nicht sein, dass einige nach Demokratie rufen, aber sobald es dann im Parlament eine religiös geprägte Mehrheit gibt, wollen sie das Ergebnis nicht akzeptieren.“

Der Militärrat

Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi (*1935) führt den den „Obersten Militärrat“, an den Diktator Hosni Mubarak bei seinem Sturz die Macht übergab. Tantawi war ein treuer Gefolgsmann Mubaraks, dem er Verteidigungsminister und Minister für die Produktion militärischer Güter diente.

Der Militärrat wollte erst Anfang 2013 einem gewählten Präsidenten die Macht abtreten. Nach Massenprotesten lenkte er ein, die Wahl soll in der ersten Jahreshälfte 2012 stattfinden.

Chronologie

25. Jänner
An einem „Tag des Zorns“, zu dem Aktivisten via Internet aufgerufen hatten, beginnen die Proteste.
2. Februar
Das Regime hetzt Schlägerbanden, teils auf Kamelen, auf die Demonstranten.

11. Februar
Vizepräsident Omar Suleiman verkündet den Rücktritt von Machthaber Mubarak.

Seit 19. November
Neue Proteste richten sich gegen den Militärrat, dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte fallen mindestens 41 Menschen zum Opfer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2011)

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