Eine offene Gesellschaft trägt Trauer

(c) AP (Lefteris Pitarakis)
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Reportage vom 27. 7. Die Reaktion der norwegischen Bevölkerung nach den Bluttaten von Oslo und Utøya ist ungewöhnlich: Die Toleranz wird zur Grundtugend erhoben.

Blumen überall. Auf dem Straßenpflaster, an den Fassaden und Plakatwänden, an Kirchen und Kiosken in Oslos Innenstadt liegen, stecken, hängen Rosen, und das Blumenmeer vor dem Dom ist zum Ozean gewachsen. Das sind die Liebeszeichen, die die Teilnehmer der Gedenkkundgebung am Abend davor zurückgelassen haben.

Ein „Rosenzug“ sollte es werden, vom Rathaus bis zum Tatort des Bombenanschlags im Regierungsviertel, doch dann war an Zug nicht zu denken, so dicht waren die Straßen mit Menschenmassen gefüllt, und so standen sie eben, statt zu marschieren. Auf bis zu 100.000 hatten die Veranstalter gehofft, eine spontane Facebook-Initiative, kein arrangierter Trauerakt. Dann kamen fast doppelt so viele.

Sie kamen mit einer Rose in der Hand, nicht nur den roten der Sozialdemokratie, die der Massenmörder Anders Breivik so hasst, dass er ihr durch sein Massaker die Rekrutierungsgrundlage entziehen wollte. Da waren auch weiße Rosen und gelbe und rosarote, und Politiker aller Parteien und Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe standen zusammen und reckten die Blumen in den Himmel.

„Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, wo Menschen in einer kritischen Lage mit Blumen auf die Straße gehen und Wache stehen für die Demokratie“, sagte Premier Jens Stoltenberg, der in den Tagen des Schocks von einem gewieften Politiker zu einem Staatsmann gewachsen ist, der die richtigen Worte findet und sie vermitteln kann mit der passenden Mischung aus Ernst und Emotion. So auch bei dieser Kundgebung: „Wir sollten uns hüten,“ sagte er, „zu viele Schlüsse zu ziehen, solange wir ein Land in Sorge sind. Aber ein Gelübde können wir heute schon geben: Mit Demokratie und Kraft holen wir unsere Geborgenheit zurück!“


Zuwanderer mit Nationalgefühl. Der Nationalstolz der Norweger ist stark und kann in seinen Exzessen grotesk wirken. Aber er schließt nicht aus. Es ist der jüngsten Politikergeneration gelungen, das Nationalgefühl auf viele der Zuwanderer zu übertragen. Gefragt, wo sie sich zugehörig fühlen, erwidern sie ohne zu zögern: „Norsk!“ Wenn am Nationalfeiertag am 17. Mai das ganze Land feiert, gehen dunkelhäutige Kinder vorneweg in den Umzügen. Das ist nicht immer problemfrei abgegangen, es gab Proteste, als erstmals eine Pakistanerin im „Bunad“, der norwegischen Tracht, die Parade anführte. Jetzt ist das normal.

Das Bild ist nicht rosarot. Probleme mit unangepassten Migranten, Segregation und Bandenkriminalität gibt es auch, ebenso wie Fremdenhass und Islamfeindlichkeit. „Die Ansichten, die Breivik vertrat, unterscheiden sich nicht markant von dem, was in den sozialen Medien im Zeitalter der unredigierten Meinungsfreiheit Mainstream geworden ist“, sagt der Sozialanthropologe Sindre Bangstad. Doch nun sei eine Grenze überschritten: „Jetzt ist es nicht mehr möglich, die Existenz der Islamophobie zu bagatellisieren.“ Populisten, die mit Feindbildern zu punkten versuchen, sollen wissen, dass „wir viele sind, die mit unseren Mitbürgern, ungeachtet ihrer Hauptfarbe, Schulter an Schulter stehen“.

Der Ruf nach mehr Überwachung ist dennoch ausgeblieben. Einerseits, weil sich die Erkenntnis durchsetzte, dass strengere Regeln nichts genützt hätten. Andererseits, weil den Norwegern die offene Gesellschaft ein wertvolles Gut ist, die gerade nach dem Schock ihre Stärke zeigt.

Es ist keine naive Offenheit. Die Zeiten, in denen man ins Parlament spazieren und mit Politikern plaudern konnte, sind auch in Oslo vorbei. Ins Regierungsgebäude hätte Breivik seine Bombe nicht schleppen können. Ein mit Sprengstoff gefülltes Auto davor zu parken war kein Problem. Doch schon zwei Tage nach dem Attentat waren die meisten Absperrungen verschwunden. Der Kontakt zwischen Volk und Volksvertretern soll nicht weiter eingeschränkt werden.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2011)

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