Reportage vom 13. 3. Nicht nur in Krisensituationen halten sich die Japaner an mentale Spielregeln. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft mit hoher Disziplin.
Es ist seltsam ruhig in Tokio. Das kann daran liegen, dass sich in der sonst lärmenden Millionenstadt kaum noch etwas bewegt. Zwar fuhren am Samstag die meisten S- und U-Bahnen wieder, aber viele Menschen bleiben zu Hause. Das wiederum kann auch daran liegen, dass der wichtigste Alltagsgegenstand der Japaner, das Handy, nur bedingt funktioniert. Verunsichert hat das vor allem die Schulkinder. Sie sind gewohnt, mit dem Mobiltelefon zu navigieren, zu spielen und sich über GPS von den Eltern kontrollieren zu lassen. Weil nach dem Beben keine Züge verkehrten und die fast 40.000 Taxis der japanischen Metropole auf einen Schlag alle besetzt waren, blieb nur der Fußmarsch, oft über Stunden. Niemand hat deshalb auf die Behörden geschimpft oder gar das göttliche Schicksal verflucht. Allenfalls ein resigniert klingendes, aber ehrlich gemeintes „Shoganai“ ist öfter zu hören. Ob privat oder öffentlich, meint der wichtigste Stoßseufzer der Japaner: Es kommt halt, wie es kommt, man kann nichts dagegen machen – außer das Beste aus der Situation. In keinem Fall den Kopf oder gar das Gesicht verlieren. In einer Lage wie dieser ist es jedem Japaner mental antrainiert, sich an die Spielregeln zu halten, damit das Zusammenleben weiter funktioniert.
Und wenn es ganz dick kommt, besinnen sich die Japaner auf ihr „Amae“. Kein Begriff umschreibt die japanische Seele treffender. Übersetzt bedeutet es: das Gefühl, an der Mutterbrust zu liegen. Übertragen ist es eine Art Urvertrauen, gut aufgehoben zu sein.
Dieses tief empfundene Vertrautsein spürt man in der Familie oder bei den Nachbarn, später in der Schule oder dem Club. Ohne Amae könnte ein Japaner mit Frau und Kind leben, aber in seiner Firma nie bestehen. Er braucht den festen Platz in der Gesellschaft. Das ist der Schlüssel zu vielen Eigenarten. Etwa die Ablehnung des Individualismus, der oft als Egoismus und Außenseitertum interpretiert wird. „Auf einen Nagel, der hervorsteht, haut man drauf“, heißt ein Sprichwort, das in der Schule Pflichtstoff ist.
Tropfen im Meer. Ohne Amae ist schwer zu begreifen, warum ein Japaner im Zweifel einen besseren Job in einem anderen Unternehmen ausschlägt. Man kann immer nur wenigen Gruppen auf einmal angehören. Wer springt, beweist seine Unfähigkeit zur Integration und verrät die Gruppe, die ihn bei einem Fehler schützen würde. Jedem Japaner wird schon als Kind eingebläut: „Du bist der Tropfen im Meer.“ Das gilt auch in der Katastrophe.
Die Mitglieder von Gemeinschaften messen ihre eigene Lebensführung ständig an dem, was sie in ihrer Umgebung sehen. Das Ergebnis ist ein hoher Grad der Konformität in Kleidung, Aussehen und Benehmen. Und eine Gesellschaft mit hoher Disziplin. Deshalb – und weil das amtliche Gesetz dies vorschreibt – hortet eine japanische Familie für den Erdbebenfall Notrationen, Helme und feuerfeste Kleidung. Auch die Teilnahme an den jährlichen Katastrophenübungen ist eigentlich nicht Pflicht. Aber man macht mit und war damit vielleicht auch besser auf den Ernstfall vorbereitet.
Möglich ist diese Denkweise vielleicht nur, weil diese Nation streng zwischen Öffentlichem und Privatem trennt. Nach außen keine Gefühle wie Wut, Trauer, Freude zeigen. Die Öffentlichkeit ist „Soto“-Zone, dort herrscht das Rationale. Im Inneren gibt es den „Uchi“-Raum. Dort kann man über Schläge weinen, die das Leben fast zwangsläufig auch in Japan bereithält. Dieses mentale Training über Jahrhunderte hinweg verhindert natürlich keine Katastrophen, es mindert aber die Angst davor.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2011)