Marcel Prawys Emotionspräzision

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Der „Opernführer der Nation“ wäre am Donnerstag 100 geworden. Die Volksoper erinnert an den „anderen Prawy“, den Wiener Musical-Prometheus.

Ganz leicht musste es wirken. Improvisatorisch. Marcel Prawy, das war der, den man nur anzutippen brauchte, und es kamen tausende Geschichten über die Oper heraus, über Operette auch und Musical, über Leonard Bernstein oder Richard Strauss.

In Wahrheit war nichts an diesem Vermittlungsgenie spontan. Vor allem: Was er erzählte, hielt jeder wissenschaftlichen Überprüfung stand. Je abenteuerlicher die Geschichte, desto bombensicherer war sie abgesichert. Die Wahrheit steckte in Prawys Kopf – für die Zeit, die er vor der Fernsehkamera stand und die Sendung aufnahm.

Über die Jahre hin aber steckte sie in Plastiksäcken. Hunderte von ihnen waren in der Wohnung des „Opernführers der Nation“ verstaut. Genau genommen wohnten die Säcke, denn für den Hausherrn selbst war längst wegen Überfüllung geschlossen. Er übersiedelte ins Hotel Sacher, wenn er nicht gerade reiste, auf den Spuren Aidas zu den Pyramiden, auf jenen von Verdis „Maskenball“-Gustavo nach Stockholm und nach Boston – wohin die Zensur einst den Königsmord verbannt hatte.

Die artifizielle Spontaneität Prawys ruhte auf reichen Erlebnissen. Seit seiner Kindheit sammelte er musikalische und theatralische Eindrücke, bevölkerte die Stehplätze der Wiener Oper und, sobald Musikkenner jüdischer Abstammung in der Heimat nicht mehr erwünscht waren, in der New Yorker Met. Wo immer er war, saugte er Musik ein und stellte die Spuren ihrer Hintergründe sicher. Er verkehrte mit Opernsängern und Komponisten, mit Dirigenten und Korrepetitoren, fragte sie aus, verarbeitete seine Erkenntnisse zu Büchern und legte die legendäre Zettelsammlung an, die nach Sachgebieten, deren genaue Abgrenzungen er nur selbst kannte, gebündelt in den besagten Säcken lagerte.

25 Sekunden, präzise memoriert

Dann war da sein singuläres Kurzzeitgedächtnis, gepaart mit einem untrüglichen Gespür für Dramaturgie: Wenn er sagte, die Moderation zwischen diesen beiden Zuspielungen muss 25 Sekunden lang sein, dann war sie 25 Sekunden lang. Der wie aus der Pistole geschossene Kommentar wurde akribisch vorbereitet, die Wörter abgezählt – und unmittelbar vor dem Take (meist an einem Ort, den Damen nie zu sehen bekommen) memoriert.

Der Erfolg war stupend. Wenn Prawys Gesicht auf dem Bildschirm erschien, lauschten sogar Menschen, die nie ein Opernhaus betreten würden, gespannt der Geschichte von Zar Boris oder des Aschenputtels, wie Gioacchino Rossini es auf die Bühne gebracht hat.

Vor allem aber: Ganz Österreich war sich bewusst, dass die Sache, für die dieser Mann da so eifrig und eloquent stritt, von so eminenter Bedeutung ist, dass etwa Subventionen für den Opernbetrieb nicht auch nur im Traum infrage gestellt werden durften.

An der Volksoper war auch der andere Prawy zu erleben, der nebst Mozart und Erich Wolfgang Korngold auch Robert Stolz und George Gershwin zu seinen Heiligen zählte. Als Chefdramaturg des Hauses am Gürtel brachte er „Porgy and Bess“ und die wichtigsten Musicals zur Erstaufführung; auch das mit der unbändigen Energie des wahrhaft Liebenden.

Die wahre Liebe galt der Operette

Auch wurde er nicht müde zu betonen, mit welch heiligem Ernst und musikalischem Tiefgang man die wichtigsten Werke der Operette zwischen „Fledermaus“, „Opernball“ und „Giuditta“ zu behandeln hätte. Er wäre verzweifelt, würde er die Realität der Operettenpflege anno 2011 erleben. Immerhin ehrt ihn die Volksoper zum Jubiläum mit einer Gala, in der sogar Julia Migenes, die er einst entdeckt hat, noch einmal zurückkehrt. Am 100. Geburtstag, heute, Donnerstag, und noch einmal am 3. Jänner gibt es leichte Muse, die er so ernst genommen hat, kommentiert von Christoph Wagner-Trenkwitz, der von Prawy viel gelernt hat und nie von sich behaupten würde, sein „Nachfolger“ geworden zu sein.

Marcel Prawy hat seine singuläre Stellung selbst am schönsten beschrieben: „Ich hätte ja gar nichts anderes werden können. Ich konnte in Wahrheit nix. Ich war nur der Prawy.“ Mehrere Generationen von Musikfreunden waren dieser Fügung dankbar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2011)

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