Nirgendwo sonst bereiten so viele Menschen ihrem Leben selbst ein Ende. In der Gesellschaft ist Suizid nach wie vor ein Tabuthema, die Politik reagiert zögerlich.
Seoul. Von den Bahnsteigen der U-Bahn in Südkoreas Hauptstadt, Seoul, ist das Gleis auf den ersten Blick nicht auszumachen: Die Gleise sind verglast, die Bahnen halten zentimetergenau in bestimmten Abschnitten, die Türen öffnen sich synchron zu Glasschiebetüren auf dem Bahnsteig. Der Grund: Immer mehr Koreaner werfen sich vor einfahrende Züge.
„Werden wir eine Selbstmordrepublik?“, fragte die Zeitung „Korea Herald“. Denn die veröffentlichten Daten der OECD über die Selbstmordraten in ihren Mitgliedstaaten attestierte dem Land einen traurigen ersten Platz: Südkorea führt die Liste mit 28,4Selbstmordtoten auf 100.000 Einwohner an, vor Ungarn (19,6), Japan (19,4) und der Schweiz (14,3). Das OECD-Mittel liegt bei 11,2 pro 100.000 Einwohnern – weniger als die Hälfte. Von Teenagern bis zu 40-Jährigen ist Suizid die Todesursache Nummer eins, bei den bis 60-Jährigen ist es die Nummer zwei.
Als Ursache machen Mediziner und Sozialarbeiter privaten Stress und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich. Junge Menschen stehen unter hohem Erfolgs- und Anpassungsdruck, während sich die wirtschaftliche Dynamik der vergangenen Jahrzehnte abgeschwächt hat.
Angehörige selbst gefährdet
Der Missstand alarmiert auch die Politik: Die regierende Grand National Party beziffert den wirtschaftlichen Schaden allein für 2009 auf 4,9 Billionen Won – rund 3,2 Milliarden Euro. Die Ausfälle generierten sich nicht allein durch den Ausfall junger Arbeitnehmer, sondern auch durch die Beeinträchtigung und Krankheiten der Hinterbliebenen. Nach Darstellung von Min Seong-ho, Professor an der renommierten Yonsei-Universität in Seoul, sind Familienangehörige von Suizidopfern einem achtfach höheren Selbstmordrisiko ausgesetzt. Depression und damit eingehender Alkoholmissbrauch gehen dem Drama in der Regel voraus. Min und Kollegen werben für Monitoring-Programme und stationäre Beobachtung Überlebender und ihrer Familien.
Politik und Medizin drängen kaum zu den Opfern durch: Vieles würde aus Scham verschwiegen, heißt es. Auch scheint die Politik zu entschlossenem Handeln noch nicht bereit. Das Gesundheitsministerium habe für 2011 ein bescheidenes Budget von etwa 13Millionen Euro, berichtet der „Herald“. Bewilligt habe man nur 900.000 Euro. Japan habe allein 2008 etwa 190 Mio. Euro für Suizidbekämpfung aufgewendet.
„Die Gesellschaft sieht Selbstmord immer noch als privates Phänomen und nicht als sozialen Missstand“, sagt Kim Jong-gab von der Konkuk-Universität in Seoul. „Nur wenn dem Thema größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, kann die Selbstmordrate gesenkt werden.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.01.2012)