"Kein Landstrich, der unbefleckt wäre": Erinnerungskriege in Sarmatien

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Leipziger Buchmesse: Martin Pollack gestaltet einen Schwerpunkt über Literatur aus Belarus, Polen und der Ukraine. Mit der „Presse“ sprach er über Geschichte, Politik und Lyrik.

Belarus (Weißrussland), Polen und die Ukraine: Die – nicht nur – historischen Gemeinsamkeiten dieser Länder sind Thema des österreichischen Schriftstellers und Übersetzers Martin Pollack, der 2011 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hat. Heuer kuratiert er den auf drei Jahre angelegten Schwerpunkt „Tranzyt – Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus“ auf der Leipziger Buchmesse.

2005 hat Pollack eine Anthologie namens „Sarmatische Landschaften: Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland“ herausgegeben. „Die Polen erinnern sich gern an das einstige Sarmatien“, erklärt Pollack: „Für sie ist das so eine Art innerkontinentales Atlantis.“ In der Spätantike verstand man unter Sarmatien die große Region zwischen Weichsel, Wolga, dem Schwarzen Meer und der Ostsee. Die polnisch-litauische Adelsrepublik der frühen Neuzeit übernahm diesen Namen, in ihr lebten Polen, Weißrussen und Westukrainer in einem Staatenverband, in dem die Polen die Führung innehatten: „Für sie war das ein Goldenes Zeitalter.“

Mit ihrem EU-Beitritt sind die Polen in den Westen gerückt und haben „nun die Rolle des reichen Onkels übernommen“, meint Pollack. Im Nordosten des Landes lebt eine lebendige belarussische Minderheit, die Zeitschriften veröffentlicht, einen Radio- und einen Fernsehsender betreibt und engen Kontakt hält mit den Verwandten „drüben“. Regen Austausch gibt es auch zwischen dem Südosten Polens und dem ehemaligen österreichischen Galizien, der heutigen Westukraine. „Deshalb ist dieses Dreigespann als Schwerpunkt in Leipzig durchaus berechtigt“, ist Pollack überzeugt.

Massaker der Ukrainer an Polen

Was die drei Länder noch verbindet, ist rotbraun statt golden: „Bloodlands“ nennt der US-Historiker Timothy Snyder diese Region. In seinem 2011 erschienenen Buch beschreibt er die Blutorgien, die im 20.Jahrhundert dort stattgefunden haben. Tatsächlich leben die Menschen in dieser Gegend auf einem gigantischen Friedhof. „Es gibt dort keinen Landstrich, der unbefleckt wäre“, sagt Pollack. Zuerst marschierte die deutsche Wehrmacht durch, dann die Rote Armee. Die Folgen: Flucht, Vertreibungen, Plünderungen, Massenvergewaltigungen und -erschießungen. So gab es etwa während der deutschen Besatzung Massaker der Ukrainer an den Polen. Damals kollaborierte eine aufständische ukrainische Armee mit den Deutschen. „Für die Ostukrainer sind das heute Banditen, in der Westukraine baut man ihnen Denkmäler“, berichtet Pollack. In ihrem 2010 auf Deutsch erschienenen Buch „Museum der vergessenen Geheimnisse“ schreibt Oksana Sabuschko über diese verworrene Geschichte der Ukraine. Sie wird in Leipzig dabei sein.

Wert legt Pollack darauf, dass nicht gegenseitig aufgerechnet wird, sondern jedes Land seine eigene Vergangenheitsbewältigung betreibt. Das erste Panel, das er in Leipzig leiten wird, trägt deshalb den Titel „Erinnerungskriege“. Die finden zum Teil nämlich innerhalb der drei Länder statt.

Stalinsche Säuberungen in Belarus

In Belarus etwa gibt es eine Diskussion über einen Ort, an dem 1937 ein Massaker stattgefunden hat, verübt im Zuge der Stalinschen Säuberungen vom NKWD, dem sowjetischen Volkskommissariat für Inneres. Offiziell haben bis heute Massenerschießungen jedoch ausschließlich Deutsche durchgeführt. Belarus ist mit seiner bizarr-anachronistischen Diktatur aber ohnehin ein Spezialfall. In Gesprächen mit Intellektuellen höre er oft, „dass Lukaschenko mehr ein Fall für den Psychiater als für den Politologen ist“, erzählt Pollack.

Er erzählt auch von einer Lesereise, die ihn nach Gomel geführt hat, die zweitgrößten Stadt von Belarus in der Nähe von Tschernobyl. Dort fährt man durch gesperrtes, weil verseuchtes Gebiet und fragt sich, wieso hier Menschen leben dürfen. „Gomel war einfach zu groß“, ist die lapidare Antwort der belarussischen Kollegen Pollacks. Bei der Lesung selbst erinnerte ihn vieles an sowjetische Zeiten: Da sitzt ein Mann im Publikum, der eifrig mitschreibt und kuriose Fragen stellt, oder es steht ein mit Orden behängter Veteran auf und erhebt sein Glas auf die österreichisch-belarussische Freundschaft. „Willkommen in den 1950er-Jahren“, dachte sich Pollack.

„Eine Erzählung ist kein Manifest“

So sei die Gefahr groß, die Texte der belarussischen Autoren „primär auf politische Inhalte hin abzusuchen“, schrieb Pollack im jüngsten Heft der renommierten österreichischen Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“. Dagegen verwehrt sich etwa die belarussische Lyrikerin Valžyna Mort vehement: Es sei unannehmbar, ständig ungefragt in die Rolle von politischen Kommentatoren gedrängt zu werden. Wenn sie eine Dorfgeschichte schreiben will, dann schreibt sie eben eine Dorfgeschichte, sagt Pollack: „Die wird natürlich einen politischen Hintergrund haben, weil die Politik so ist, wie sie eben ist, aber eine Erzählung ist kein politisches Manifest.“

Eines könne sich der Westen aber von den Osteuropäern abschauen, meint Pollack: die Begeisterungsfähigkeit für Literatur. „Ich habe Lyrik-Lesungen erlebt, bei denen die Säle gerammelt voll mit jungen Leute waren, die gejubelt haben.“ So etwas wünsche er sich auch für Leipzig...

Auf einen Blick

Die Leipziger Buchmesse dauert von 15. bis 18. März. Insgesamt präsentieren 2071 Verlage über 100.000 Bücher aus 44 Ländern.

Österreich ist mit 188 Verlagen vertreten. In 27 Veranstaltungen treten auf dem Gemein-schaftsstand u. a. Bettina Balàka, Christoph Braendle, Monika Helfer, Jürgen Lagger, Mieze Medusa, Lukas Meschik, Kurt Palm, Erwin Riess, Eva Rossmann, Stefan Slupetzky auf.

Drei Leipziger Buchpreise werden in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung am 15. März vergeben und sind mit jeweils 15.000 Euro dotiert.

Das Autoren-Camp ist die wichtigste Neue-rung. Es dient der Vernetzung von Autoren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.03.2012)

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