"Hütet euch vor Priestern, Dieben und Häuptlingen"

Huetet euch Priestern Dieben
Huetet euch Priestern Dieben(c) EPA (Jim Hollander)
  • Drucken

Matt Ridley ist kein heilloser, sondern ein rationaler Optimist. Drei Faktoren jedoch könnten seiner Ansicht nach die Entwicklung bremsen: Religion, Korruption und Bürokratie.

Sie haben eine schulpflichtige Tochter. Ich nehme an, als „rationaler Optimist“ gehen Sie davon aus, dass sie einmal in einer besseren Welt leben wird.

Matt Ridley: Sicherlich.

Und was macht Sie so sicher?

Sicher kann man natürlich nicht sein. Ein Asteroid, ein Atomkrieg oder eine andere Katastrophe könnten die Zivilisation auslöschen. Das schließe ich nicht aus. Aber wahrscheinlicher ist, dass der Lebensstandard in den nächsten 70 oder 80 Jahren enorm steigt. Unser Lebensstandard wächst, weil wir füreinander arbeiten. Und dieser Prozess weitet sich aus. Innovation entsteht, wenn Menschen ihre Ideen austauschen können. Auch dieser Vorgang beschleunigt sich und wird leichter, durch das Internet und andere neue Kommunikationstechnologien.

Europa befindet sich in einer Schuldenfalle, einzelne Länder in einer Rezession. Der Kontinent hat miserable demografische Aussichten. Warum sollten wir optimistisch sein?

Ich bin viel weniger optimistisch für Europa als für China, Indien, Afrika, Südamerika und Nordamerika. Es kommt in der Geschichte der Menschheit vor, dass Kontinente aus der Wachstumsmaschine aussteigen und ärmer werden. China hat auch ein paar Jahrhunderte Pause gemacht.

Kann das auch Europa passieren?

Wenn Europa lang genug eine verrückte Politik verfolgt, könnte es auch 200 Jahre Desaster heraufbeschwören. Das ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Europa wird von der Wirtschaftskraft und den Innovationen Chinas, Indiens oder anderer Länder profitieren. Wenn die Chinesen etwa antivirale Medizin produzieren, wird auch Europa sie haben. Und langfristig bin ich nicht so pessimistisch für Europa. Denn die momentanen Probleme haben überwiegend politische Ursachen. Griechen, Spanier und Italiener wären durchaus in der Lage, ihr Leben zu verbessern.

Ist nicht die Schuldenkultur auch Folge eines sorglosen Optimismus? Könnte es nicht sein, dass unser Wohlstand Resultat eines gigantischen Pyramidenspiels ist und wir auf Kosten der Zukunft leben?

Die Europäer haben sich in den vergangenen zwei Dekaden ein schnelleres Wachstum verschafft, als es durch ihre Produktivität gerechtfertigt gewesen wäre. Und den Unterschied haben sie durch billiges Geld aus Asien überdeckt. Aber im globalen Maßstab kann es nicht sein, dass die Weltwirtschaft ein Pyramidenspiel ist. Die Welt als Ganzes kann nicht verschuldet sein. Nicht einmal Goldman Sachs hat herausgefunden, wie man Geld vom Mars leiht. Chinesischen Überschüssen stehen europäische und amerikanische Defizite gegenüber. Die Verbesserung des durchschnittlichen Lebensstandards in den vergangenen 50 Jahren ist reell und nicht von der Zukunft geliehen. Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in den vergangenen 50 Jahren verdreifacht. Die Kindersterblichkeit hat sich um zwei Drittel verringert. Und die Lebenserwartung ist im globalen Maßstab um ein Drittel gestiegen.

Sie schreiben in Ihrem Buch „The Rational Optimist“, dass die wirkliche Gefahr darin besteht, Veränderungen aufzuhalten.

Europas Widerstand gegen technologische Neuerungen bereiten mir Kopfzerbrechen. Ein aktuelles Beispiel für diese gefährliche Selbstgefälligkeit ist der Umgang mit genmanipulierten Lebensmitteln. Die Gegner sagen: Die Welt ist gut genug, Pestizide reichen aus, wir wollen uns darüber nicht hinausentwickeln. Die technologischen Optimisten sagen hingegen: Wir können die Welt noch viel besser machen. China und Südamerika haben derzeit eine viel bessere Biodiversität ihrer Anbauflächen als Europa. Denn sie sind in der Lage, insektenresistente Pflanzen zu verwenden. Sie müssen sie nicht mit Pestiziden besprühen. Das ist ein Nutzen für Umwelt, Bauern und Konsumenten, den andere Kontinente lukrieren können, wir aber nicht.

Es gab doch immer Bewegungen, die technischen Neuerungen skeptisch gegenüberstanden. Maschinen wurden zerstört, weil man dachte, sie würden die Lebensgrundlage vernichten. Kommt diese Skepsis nicht alle paar Jahrzehnte in Schüben?

Der Bau von Eisenbahnstrecken wurde von Demonstranten verzögert, weil sie dachten, Pferde würden beim Anblick von Zügen panisch werden. Ich glaube trotzdem, dass es jetzt möglicherweise schlimmer ist. Es ist jetzt 20 Jahre her, dass genmanipulierte Organismen zum ersten Mal verwendet wurden. Doch Europa boykottiert sie noch immer. Obwohl viele Millionen Menschen sie anderswo auf der Welt zu ihrer vollsten Zufriedenheit konsumiert haben. Da stimmt etwas nicht, und zwar die tiefe Verweigerungshaltung im politischen System. Die EU zu einem Umdenken zu bewegen, scheint viel schwieriger zu sein, als eine lokale Behörde oder nationale Regierung zu überzeugen.

Woran liegt das?

Einer der Gründe könnte die Überalterung der Bevölkerung in Europa sein. Alte Menschen lehnen Änderungen stärker ab als junge. Ich kenne die Neigung von mir selbst. Ich muss mich mittlerweile dazu zwingen, herauszufinden, wo ich neue Apps finde. Aber das ist insofern nicht unbedingt durch Daten gestützt, da junge Menschen in Europa genmanipulierte Nahrungsmittel ebenso deutlich ablehnen. Es hat mehr damit zu tun, dass einzelne Interessengruppen den politischen Prozess in Besitz genommen haben.

In Nordafrika und im Nahen Osten ist die Bevölkerung sehr jung. Als der Arabische Frühling begann, war der Optimismus groß. Ein Jahr später ist zweifelhaft, ob die arabische Welt tatsächlich in den Mainstream der globalen Entwicklung einbiegt.

Ich bleibe vorsichtig optimistisch. Obwohl der Weg holprig ist und es Rückschläge geben mag, verläuft die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaften in Nordafrika besser als unter der Herrschaft von Diktatoren. Es gibt erfahrungsgemäß drei große Bremsen für die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen: Hütet euch vor Priestern, Dieben und Häuptlingen. Der Nahe Osten hat nun Häuptlinge gegen Priester eingetauscht. Ob das ein Fortschritt ist, wird sich erst weisen. Es kann aber nicht falsch sein, die Diktatoren losgeworden zu sein. Europas Problem ist, dass es zu viele Häuptlinge hat. Russlands Problem sind die Diebe. Und Arabiens Problem sind die Priester.

Sie glauben also, dass Religion die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft hemmt?

Im Großen und Ganzen schon. Natürlich nicht immer. Es gibt auch Zeiten, in denen Religion eine Kraft des Guten sein kann. Aber meistens ist es umgekehrt, wie die arabische Geschichte besonders gut zeigt: Die arabische Welt war vor 1000 Jahren eine blühende Zivilisation, bis sie unter dem Einfluss eines fundamentalistischen Islam introvertiert, antirational und antimodern wurde.

Haben Sie sich selbst immer als Optimisten gesehen? Oder gab es auch Zeiten, in denen Sie dachten, es wirke intelligenter, den Pessimisten zu geben?

Ich war ein Pessimist. In meiner Jugend, in den 1970er-Jahren, war die Zukunft der Welt düster, weil mir das alle so gesagt haben: Die Bevölkerungsexplosion war unaufhaltsam, Hungersnöte waren unvermeidlich, das Öl ging aus. Ich habe all das geglaubt. Ich habe auch gedacht, der Regenwald wird verschwinden. Niemand hat mir irgendetwas Optimistisches über die Zukunft der Welt erzählt. Ich hatte keinen Grund, optimistisch zu sein. Es war das Scheitern dieser Vorhersagen, die mich meine Annahmen hinterfragen und die Tatsachen untersuchen ließen. Und da entdeckte ich: Die guten Nachrichten sind fast unsichtbar.

Sie haben selbst haben für den „Economist“ als Journalist gearbeitet. Handelt es sich um ein Medienphänomen oder um eine anthropologische Konstante?

Die Medien agieren so, weil sie damit die Interessen ihrer Konsumenten spiegeln. Tief in unserer Psyche gibt es eine Tendenz, vorsichtig und pessimistisch zu sein. Ironischerweise sind wir nicht pessimistisch, wenn wir an unser eigenes Leben denken.

Warum ist das so?

Ich halte es für verwunderlich. Ich kann in einem evolutionären Sinn verstehen, warum wir pessimistisch sind. Wenn man nicht pessimistisch in Bezug auf das Risiko wäre, von einem Löwen gefressen zu werden, dann wird es wahrscheinlicher, von einem Löwen gefressen zu werden.

Der Pessimismus in Medien wäre demnach eine Art kollektives Warnsystem.

Genau. Es gibt aber auch einen anderen Grund. Die Vergangenheit ist sicher. Wir wissen, was passierte, und es stellte sich als okay heraus. Sonst würden wir nicht mehr existieren. Die Zukunft hingegen ist unsicher und könnte jede Minute schieflaufen.

Braucht eine Gesellschaft nicht Kassandras, um Fehlentwicklungen zu erkennen?

Manchmal kann es hilfreich sein, wenn jemand auf ein drohendes Desaster hinweist. Die Motivation hinter Innovationen kommt jedoch von woanders her. Ich nenne Ihnen sechs berühmte Neuerer: den Mathematiker Archimedes; al-Chwarizmi, den Erfinder der Algebra; Fibonacci, der das Zahlensystem nach Europa brachte; George Stevenson, den großen Eisenbahnpionier; Thomas Edison; Steve Jobs. Alle sechs lebten an den reichsten Orten ihrer Zeit: im antiken Griechenland, im Kalifat der Abbassiden, im Italien der Renaissance, im viktorianischen England, im goldenen Zeitalter der USA und im heutigen Kalifornien.

Nicht einer von ihnen war von Verzweiflung angetrieben, sondern alle von zuversichtlichem Ehrgeiz. Pessimismus ist kein Motor für menschliche Entwicklung.

Sind Sie frei von Nostalgie? Glauben Sie nicht, dass manches früher besser war?

Nein, ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass es früher nicht besser war. Natürlich ist eine wunderbare und romantische Vorstellung, während der Aufklärung des 18.Jhs. Smith, Hume, Voltaire und Friedrich den Großen zu treffen. Aber dann denke ich: Die Zahnheilkunde war damals nicht sehr fortgeschritten, ebenso wie die sanitären Einrichtungen. Wie viele Annehmlichkeiten des modernen Lebens es damals nicht gab!

In Ihrem Buch schreiben Sie, der Klimawandel trübe Ihren Optimismus.

Seit der Fertigstellung des Buches bin ich weniger besorgt wegen des Klimawandels. Ich bin jetzt besorgter über die Maßnahmen, die wir gegen den Klimawandel ergreifen. Denn sie haben das Potenzial, die Wirtschaft zu schnell zu entkarbonisieren und die Menschen in Armut zu stürzen.

Und was ist die größte Sorge für einen Optimisten wie Sie?

Zwei Wörter: Bürokratie und Aberglaube. Zu viel Staat, der das Tempo verlangsamt, in dem Menschen Handel treiben, sich spezialisieren, sich verändern und Neues schaffen.

Sie sind ein glühender Anhänger des freien Marktes. Hat die Zwangsverstaatlichung der bankrotten Northern-Rock-Bank, deren nicht geschäftsführender Vorsitzender Sie waren, Ihre Begeisterung geschmälert?

Das hat mein Vertrauen in Märkte erschüttert, die kontrolliert werden. Die Finanzkrise wurde nicht durch die Freiheit, sondern die Verzerrung von Märkten ausgelöst. Das hätte ich sehen müssen. Zum Teil waren Behörden verantwortlich, teils andere Quellen und auch die Neigung von Finanzmärkten, Blasen zu schaffen. Gütermärkte tendieren dazu nicht. Und sie haben unseren Lebensstandard erhöht. Finanzmärkte sind ganz andere Kreaturen.

Der OPTIMIST

Matthew White Ridley, der fünfte Viscount von Ridley (geboren am 7.Februar 1958 in Northumberland), arbeitete nach seinem Studium der Zoologie zunächst von 1984 bis 1987 als Wissenschaftsredakteur beim britischen „Economist“, danach bis 1992 als dessen Korrespondent in den USA. Von 2004 bis 2007 war er nicht geschäftsführender Vorsitzender der Northern-Rock-Bank, quasi als Nachfolger seines adeligen Vaters. Die Bank wurde im Zuge der Finanzkrise verstaatlicht.

Sein jüngstes Buch heißt „The Rational Optimist“, das auf Deutsch im DVA-Verlag („Wenn Ideen Sex haben“) erschienen ist. Davor hat er unter anderen „Die Geschichte des menschlichen Genoms“, „Die Biologie der Tugend“ und „Eros und Evolution“ geschrieben. John Watson

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.