Historikerstreit über Hitler und Stalin

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Dan Diner kritisiert Timothy Snyder, der mit „Bloodlands“ einen Sachbuchpreis bei der Buchmesse in Leipzig gewonnen hat. Das Werk relativiere den Holocaust. Der Autor verteidigt seinen Ansatz.

Zwei ehrenwerte Geisteswissenschaftler sind wegen der Bewertung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die von den Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin zwischen 1933 und 1945 begangen wurden, in einen späten Historikerstreit geraten. Es geht unter anderem um den Vorwurf, dass in einem preisgekrönten neuen Geschichtswerk die Bedeutung des Massenvernichtungslagers von Auschwitz und dadurch der Shoah unterbewertet werde, der Ermordung von sechs Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime.

Das kritisierte Buch ist vom US-Historiker Timothy Snyder. Für „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“ (2010), das inzwischen auch in deutscher Übersetzung vorliegt (C. H. Beck, 2011) wurde er jüngst zusammen mit Ian Kershaw mit dem Leipziger Sachbuchpreis ausgezeichnet. Laut Jury hat Snyders Werk „zur europäischen Verständigung beigetragen“.

17 Millionen Opfer der zwei Diktaturen

Historiker wie Niall Ferguson, Tony Judt, Timothy Garton Ash und Neal Ascherson hatten es zuvor als innovatives, bedeutsames, bemerkenswertes Buch gelobt. Neben hymnischen Rezensionen im angelsächsischen Raum gab es auch kritische, vor allem im deutschsprachigen Feuilleton. Jörg Später bereitete es in der Frankfurter RundschauUnbehagen, dass die Studie über die Massenmorde „geografisch“ ausgerichtet sei, er vermutete Tendenzen zum Revisionismus.

In „Bloodlands“ wird jener Teil Europas untersucht, in dem der Holocaust zum Großteil stattfand, in dem auch Stalins Terror am stärksten wütete: In Polen, Weißrussland, der Ukraine, dem Westen Russlands und dem Baltikum gab es 14 Millionen Opfer zwischen 1933 und 1945 – Opfer der Shoah, der Säuberungen Stalins und seiner durch die Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der Dreißigerjahre verursachten Hungerkatastrophe. Insgesamt starben 17 Millionen Zivilisten und Kriegsgefangene im Einflussbereich der beiden Diktatoren.

Dan Diner ist nicht mit Snyders breitem Ansatz einverstanden. Hart kritisiert der Historiker ihn auf den Literaturseiten der deutschen Tageszeitung Die Welt: „Auschwitz, die Apotheose des NS-Systems, ist bei Snyder der Anlage seiner Geschichtserzählung wegen wenig gelitten. Bei ihm findet sich Auschwitz eher auf seine Bedeutung als Arbeitslager, also auf den Komplex Monowitz heruntergestuft.“ Das Morden werde „ohne Ansehen von Herkunft und Schicksal“ aufgearbeitet, ein zentrales Anliegen sei es, den Holocaust „aus der ihm bislang zugesprochenen Besonderheit herauszulösen und ihn in einen weitaus umfassenderen Zusammenhang der Schreckensgeschichte im Bereich eben jener Bloodlands einzubetten.“

Dadurch werde Wesentliches verwischt, der Unterschied „zwischen dem Tod als Regel und dem Tod als Ausnahme“, zwischen der von den Nazis geplanten völligen Vernichtung der Juden und Stalins Massenmord, der jeden treffen konnte. Diner glaubt zudem, dass Snyder einer „topografisch privilegierten polnischen Leidensgeschichte“ entgegenkomme. Die „Bloodlands“ erinnerten an den „nach Osten ausgreifenden historischen polnischen Grenzraum“.

Die Singularität des Holocaust

Snyder erwidert, ebenfalls in der Welt, dass sich sein Werk gerade eben gegen bisher übliche nationale Geschichtsschreibung wende, dass er eine transnationale Geschichte zu schreiben versuche. In Wirklichkeit kritisiere er die polnische Nationalgeschichtsschreibung ebenso wie jede andere: „Mein Buch ist in Wahrheit die radikalste Verteidigung des Singularität des Holocaust, die bisher geschrieben wurde“, meint er, „denn es demonstriert nicht nur den besonderen Charakter des Holocaust als einzigem Versuch, ein nach rassischen Kriterien definiertes Volk vollständig zu vernichten, sondern auch, dass der Holocaust mehr Menschen ermordete als jedes sowjetische Verbrechen, auch mehr als alle sowjetischen Mordmaßnahmen zusammen.“ Es sei aber eine Tatsache, dass im selben Teil Osteuropas zwischen 1933 und 1945 auch acht Millionen Nichtjuden ermordet wurden.

Fünf Sechstel der Vernichtung anderswo

Diese Verbrechen müsse man verstehen, um „die Besonderheit des Holocaust zu erkennen und zu erklären“. Er zeige Auschwitz so wie Diner als das, was es war – „als Mordeinrichtung, die als Ergänzung zu einem Arbeitslager gebaut wurde. Mein Buch argumentiert nicht, dass Auschwitz weniger schrecklich war, als es war, sondern, dass der Holocaust schrecklicher war als Auschwitz und dass unser Gedächtnis erweitert werden muss, um das ganze Grauen der historischen Ereignisse zu umfassen“. Fünf Sechstel des Holocaust haben anderswo und auch früher stattgefunden, meint Snyder.

Dieses „Anderswo“ beginnt bei Snyder mit der von Stalin herbeigeführten Hungersnot Anfang der Dreißigerjahre und führt bis zum Terror der deutschen Besatzer in Osteuropa und ihrer Niederlage gegen die Rote Armee. Seine Gesamtschau, die den Interaktionen der beiden Diktaturen nachgeht, ist aber weit davon entfernt, die Verbrechen der Diktatoren wechselseitig zu erklären oder gar Bolschewismus und Gulag als Vorbild für Hitler zu sehen, wie das einst Ernst Nolte tat, der damit 1986 den „Historikerstreit“ auslöste. Der Holocaust war in „Bloodlands“ keine „asiatische Tat“ wie bei Nolte, sondern geschah mitten in Europa.

Auf einen Blick

Timothy D. Snyder (*1969) ist Professor für Geschichte an der Yale University sowie Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen.

Dan Diner (*1946) lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem, ist Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur sowie Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2012)

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