Festwochen: Krise und Psychokrise

(c) Nurith Wagner-Strauss
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Die erste Premiere des heurigen Lateinamerika-Schwerpunktes des Festivals unter dem Motto „La vida después“, das Leben danach, galt am Sonntag „Melancolía“ aus Argentinien: gut gemeint, aber eher dilettantisch.

Die Festwochen widmen heuer einen Schwerpunkt dem Neuen Autorentheater aus Lateinamerika. Unter dem Motto „La vida después“, das Leben danach, werden die Diktaturen und Schrecknisse der jüngeren Vergangenheit aufgearbeitet. Eröffnet wurde Sonntagabend im „Brut“ im Künstlerhaus mit „Melancolía y manifestaciones“ von Lola Arias. Sie erzählt darin die Geschichte ihrer Mutter, die 1976 bei der Geburt der Tochter manisch depressiv wurde. 1976 begann der sogenannte „Prozess der Nationalen Reorganisation“, das Militär unter Jorge Rafael Videla versuchte das Land zu konservativen Idealen zu bekehren und linke Guerillaorganisationen zu vernichten. Im darauffolgenden Terror und Gegenterror verschwanden bis zu 30.000 Menschen, 2300 wurden ermordet.

Lola Arias verknüpft das Private mit dem Politischen. Zunächst wird die Geschichte der Mutter aus der Perspektive eines Kindes erzählt, das sich versucht solidarisch mit der Mutter zu verhalten, wiewohl es ihr Benehmen als immer seltsamer wahrnimmt.

Die Mutter ist Germanistikprofessorin, sie steht morgens nicht mehr auf, hält das Kind von der Schule ab, die beiden verbringen, aus der Zeit gefallen, Tage im Bett. Das Kind erlebt dann andere Phasen, die Mutter bestiehlt den Vater und stürzt sich in den Kaufrausch, immer mit scheinbar plausiblen Begründungen, warum sie dies und das erwerben oder entwenden muss. Betreuerinnen treten auf und viele Psychoanalytiker in der Form eines griechischen Chors. Auch sonst gibt es Bezüge zur Kulturgeschichte, etwa zu Dürers „Melancholie“.

Sympathisches Senioren-Ensemble

Die Tochter beginnt sich allmählich zu emanzipieren, angesichts der ständigen Selbstmorddrohungen der Mutter („Ja dann stirb halt!“), sie hat Angst, vom gleichen Leiden befallen zu werden. Sie träumt sich als Achill, der in die Antidepressiva gefallen ist und nun fürchtet, dass jemand die einzige Stelle ausmacht, wo diese nicht wirken. Schließlich wählt die Mutter den Freitod.

Der zweite Teil der Performance handelt vom Aufstand der Alten, von denen sich heute viele schlecht oder unversorgt durchschlagen müssen. Mehr Geld ist eine ihrer Forderungen, aber nur eine unter vielen. Sie wollen eine Senioren-Internationale gründen, welche die Mächtigen das Fürchten lehren soll. Aber sie streben auch nach utopischen Verbesserungen ihres Daseins: wieder gesund werden, keinen Krebs mehr bekommen, unverbraucht sein usw. „Melancolía“ ist ein Auftragswerk der Festwochen, eine Uraufführung und eine Koproduktion mit dem Berliner „Hau“ (Hebbel am Ufer). Dieses zählt zu den wichtigen Avantgarde-Bühnen. Das „Hau“ dreht die Schraube des von Rimini Protokoll  u. a. analog zum Reality-TV entwickelten Realtheaters weiter: Alltag als Theaterthema, Ichtheater; Büro, Migration, Krisenherde usw. Spieler und Zuschauer werden teilweise eins. Im „Theater heute“ (April) gibt es Pro und Kontra zu diesem Modell nachzulesen. Franz Wille prangert u. a. die Selbstausbeutung der Mitwirkenden an: Das Alternativtheater „Hau“ diene in Wahrheit dem Neoliberalismus.
Das größte Problem an „Melancolía“ ist allerdings der Dilettantismus. Trotz des sympathischen Ensembles hat die Aufführung etwas von buntem Abend: „Lasst uns unsere Probleme spielen!“ Die Darstellung psychischer Krankheiten wirkt schlicht, die Verbindung von Innen- und Außenwelt nicht schlüssig. Es muss nicht immer das Luxuriöse (Cate Blanchett und Co.) sein, aber wenn die Festwochen Theaterentwicklungshilfe betreiben, sollte das Ergebnis inhaltlich, szenisch innovativer sein. Das Premierenpublikum schien dennoch erfreut.

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