Kunstgeschichte trifft auf Reality-TV

Elisabeth Fritz verglich Kunstprojekte, Sozialexperimente und Reality-TV: Wie inszenieren Kunst, Wissenschaft und Populärkultur »echte Situationen« mit »echten Menschen«?

„Unter dem Schlagwort Reality-TV behaupten viele Sendungen, dass man echte Menschen in echten Situationen sehe“, sagt Elisabeth Fritz. In ihrer Dissertation (Uni Graz, Kunstgeschichte, Betreuerin Verena Krieger; Theodor-Körner-Preis) hat Fritz aus der Perspektive der Kunst verschiedene Bereiche analysiert, in denen mediale Experimente mit Menschen zu finden sind. „Die Idee, authentisches Verhalten durch eine künstliche, ungewöhnliche Situation wie in einem Laborversuch beobachten zu können, gibt es, seit es Kameras gibt.“ Auch Sozialwissenschaftler und Psychologen versuchen, in Experimenten zu erfahren, wie sich Menschen „wirklich“ verhalten. „In der Kunst verfolgt man andere Ziele: einerseits etwas ganz Unerwartetes zu erschaffen, andererseits war es seit den Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert ein wichtiges Anliegen, sich zum ,echten Leben‘ hin zu öffnen und das Publikum in den offenen Entstehungsprozess einzubeziehen, der selbst zum Kunstwerk wird.“

Aus der Sicht der Kunstgeschichte hat Fritz wissenschaftliche Anordnungen wie das „Stanford Prison Experiment“ (1971), bei dem Versuchsteilnehmer in Gefängniswärter und -insassen aufgeteilt wurden und das 34 Jahre später als Kunstprojekt inszeniert wurde, mit populärkulturellen Formaten wie „Big Brother“ oder „Versteckte Kamera“ verglichen: Wie unterscheiden sich die Kontexte oder wie wirken sie aufeinander ein? „Echtheit wird letztlich immer durch eine Mischung der Behauptung der Authentizität und der Wahrnehmung der Zuseher erzeugt.“ Doch in der Kunstinszenierung wird dem Betrachter seine Rolle viel bewusster gemacht: Zwar kann der TV-Zuseher durch das „Rauswählen“ von Kandidaten interaktiv an der Inszenierung teilnehmen und ist sich dabei über die künstlichen Bedingungen der „Echtheit“ im Klaren. Doch die Kunstexperimente bringen ihre Betrachter stärker zum Nachdenken über ihre eigene Verantwortung in dieser paradoxen Konstellation. „Ich war mit internationalen zeitgenössischen Künstlern persönlich in Kontakt: Es ist für eine Dissertation der Kunstgeschichte nicht alltäglich, dass man noch mit lebenden Künstlern sprechen kann“, schmunzelt Fritz. „Während die Wissenschaft wahre Aussagen über die Wirklichkeit treffen will, stellt die Kunst die Frage: Welche Darstellungsweisen von Menschen nehmen wir als echt wahr und warum?“ Melanie Stegemann

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2012)

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