Das Empörungsdilemma

Wenn die Innenministerin eine "Task Force" für Kinderschutz gründet, beschleicht einen milder Zynismus. Denn abseits tragischer Vorfälle ist von politischer Betriebsamkeit nicht viel zu merken.

Wie funktioniert Empörung? Der Kurznachrichtendienst „Twitter“ lieferte vergangene Woche Anschauungsmaterial. Auslöser war die Online-Ausgabe der Zeitung „Österreich“, die via „Live-Ticker“ vom Begräbnis jenes Jungen berichtete, der in einer St. Pöltener Schule von seinem Vater erschossen worden war. Die Twitter-Gemeinde reagierte mit einem „Shitstorm“ der Entrüstung. Der Effekt des digitalen Plebiszits war beachtlich: Werbekunden zogen sich öffentlichkeitswirksam zurück, es folgte sogar eine offizielle Entschuldigung. Dass in dem Ticker – so geschmacklos er war – faktisch nicht viel anderes als in anderen Medien stand, war den Protestierenden dabei ebenso egal wie die Tatsache, dass auch der ORF Bilder vom Begräbnis zeigte und der Boulevard tagelang unverpixelte Fotos des Jungen abgedruckt hatte. Für einen Aufschrei braucht es eben erst einen richtig „krassen“ Anlass.

Darin gleicht die „Twitteria“, zugegeben, den Journalisten (die handelnden Personen sind oft dieselben) – und der Politik. Letztere verhält sich gerade beim Thema Kinderschutz janusköpfig. Gibt es einen tragischen Anlass, zeigt sie ihr energisches Gesicht: Unter dem schneidigen Titel „Task Force Kinderschutz“ lässt die Innenministerin nach dem St. Pöltener Mord etwa über eine Ausweitung des polizeilichen Kontaktverbots für Gewalttäter diskutieren. Ob eine solche den Fall verhindert hätte, ist fraglich, der milde Zynismus, den man angesichts der Debatte verspürt, hat aber einen anderen Grund: Die Geschäftigkeit steht im Gegensatz zur Bedeutung von Kinderschutz im politischen Alltag. Die ist nämlich eher enden wollend.

Ein Grund dafür ist, dass Kinderschutz eine „Querschnittsmaterie“ ist. Die Verantwortung verteilt sich auf viele Ressorts, mit dem Effekt – man kennt das von Gruppenarbeiten –, dass sich keiner wirklich zuständig fühlt. Dass wir offiziell einen Familienminister haben, ändert insofern wenig, als der mit seinem Hauptjob, der Wirtschaft, ausgelastet ist. Ihre Fortsetzung findet die Kompetenzzersplitterung dann im Verhältnis Bund/Länder. Letztere sind Träger der Jugendwohlfahrt. Seit fast vier Jahren liegt nun der Entwurf für ein Kinder- und Jugendhilfegesetz in der Schublade. Warum? Weil sich der Bund und drei Länder (Burgenland, Oberösterreich, Steiermark) nicht einigen. Gestritten wird nicht über den Inhalt (so etwa soll das Vieraugenprinzip bei der Abklärung der Gefährdung zumindest „erforderlichenfalls“ verankert werden), sondern schlicht um die Mehrkosten. Und das, obwohl der Entwurf über die Jahre immer bescheidener wurde, und es nicht um riesige Summen geht.

Ein Fall, (k)eine Lektion. Unterm Strich führt dieses Setting dazu, dass nur etwas weitergeht, wenn es einen neuen „Fall“ gibt. Immer muss etwas passieren, das ist das Dilemma bei der Empörung. Aber selbst wenn etwas geschieht, bleiben die Effekte lokal begrenzt. Nach dem Tod des dreijährigen Cain etwa – er starb 2011 in Vorarlberg nach schwerer Misshandlung – wurde zwar bundesweit die Einsicht ins Strafregister des Jugendamts erweitert, um bei begründetem Gewaltverdacht Betreuungspersonen zu überprüfen. Maßnahmen, wie die Aufstockung des Personals in Jugendämtern oder Hilfe für stark überforderte Eltern auf Säuglingsstationen, wurden nur in Vorarlberg eingeführt.

Wobei: Es geht nicht immer nur um Ressourcen. Fragt man Praktiker, woran es krankt, hört man auch: an der Kommunikation. Oft wissen mehrere Einrichtungen über Gewalt in einer Familie Bescheid, tauschen sich aber nicht aus. Die Folge: Es fehlt eine gute Basis für eine Risikoabschätzung. 2011 belegte eine Studie, dass Österreich im Vergleich zur Schweiz und zu Deutschland bei institutionalisierter Behördenzusammenarbeit hinterherhinkt. Die Gründe für das fehlende Netzwerk reichen dabei von banal (unübersichtliche Computerdateien) bis komplex (Datenschutz). Einer Lösung kann man sich wohl nur in kleinen Schritten nähern. Umso wichtiger wäre es, konzertiert loszugehen. Und zwar ganz ohne Anlass.

ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2012)

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