Verdis "Don Carlos" klingt wie in alten Zeiten

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Mit der letzten Premiere der Saison zieht man Bilanz einer Spielzeit: Ein grandioses Sängerensemble und das Orchester unter Franz Welser-Möst sichern trotz matter Szene musikalische Festtagsqualität.

Nein, die Inszenierung ist keine Meisterleistung. Man hätte denselben Effekt wohl auch in den alten Bühnenbildern erzielen können. Und doch: Der Escorial ist eine Premiere wert. Was am Samstagabend in der Wiener Staatsoper zu hören war, rechtfertigte jeden äußeren Aufwand. Im Ausklang einer Spielzeit zumal, in der sich die Kräfte des Hauses im Repertoire wiederholt auf exzeptionelle Weise geballt haben.

Daniele Abbados szenische Umsetzung „stört nicht“, diese Ansicht war in der Pause, als bereits enthusiasmiert von Sängerleistungen geschwärmt wurde, vielfach zu hören. Was die Personenführung betrifft, gewinnt man tatsächlich nirgendwo den Eindruck, ein Darsteller sei in seiner Freiheit herumzugehen, zu stehen, die Arme auszubreiten, wo er mag, im Geringsten behindert. Auch das Zusammenspiel funktioniert, wo man willig scheint, Theater zu spielen, mit deutlichem Bezug zum Libretto der gespielten Oper, Verdis „Don Carlos“ in der italienischen vieraktigen Version („Carlo“ ohne s und Fontainebleau-Akt).

Die Bühne schafft mit allerlei artigen Licht- und Schattenspielen in einer der bedrückenden Atmosphäre des Spiels durchaus adäquaten, jeweils mehr oder weniger knapp bemessenen Schachtel die rechte Stimmung – beengt, eingesperrt, aber beengt und eingesperrt von dankbaren Reflektoren für die Stimmen. Selbst dort, wo, anders synchronisiert, der Besuch des Mönchs bei Boris Godunow gespielt werden könnte, schaffen Eric Halfvarson und René Pape packende Momente: Halfvarson, der natürlich auch den Pimen singen könnte, macht hier als Großinquisitor nicht dem Zaren, sondern dem gleich ohnmächtig-mächtigen Philipp II. angst und bange.

Musikalische Dringlichkeit

Der dieserart gepeinigte René Pape demonstriert, dass es auf Schöngesang selbst bei Verdi nicht immer ankommt, sondern auf die Intensität, mit der die dramaturgische Botschaft vermittelt wird. Und die vermittelt sein nervös grandioser, grandios nervöser König Philipp auf Punkt, Komma und – wenn auch hie und da sehr ausgiebig gedehnte – Phrase. Es ist die musikalische Dringlichkeit, die das Wiener Publikum in helle Begeisterung versetzte und wohl manch einen an frühere Zeiten denken ließ, in denen man von Aufführungen dieses Zuschnitts zum Opern-Narren gemacht wurde: Wegen solcher Sängerbesetzungen, wegen eines so engagiert und vielfarbig aufspielenden Orchesters und – endlich kann man es wieder schreiben – auch wegen eines zumindest bei den Herrenstimmen wirklich machtvollen Chors, wollte man keine Aufführung versäumen. Denn man erlebt ein Meisterwerk in all seinen psychologischen Verästelungen – aus der Kraft der Musik.

Umgeben von durchwegs mit Animo und Herzblut agierenden Vokalgestaltern, regiert die Königin, Krassimira Stoyanova, die sich mit dieser Premiere wohl endgültig als die Primadonna unserer Tage etabliert hat. Was diesem Sopran an leidenschaftlich erfüllter Tongebung, an meisterhaft modellierter Phrasierung, an leuchtender Entfaltung und, wo es nötig ist, expressiv abgedunkelter Koloristik möglich ist, beschwört Ahnungen längst verloren geglaubter Musiktheater-Vollendung herauf. Ich habe lange keine Elisabeth von Valois so schön, so innig, dabei so bewegend singen gehört.

Dabei kommt dieser Sängerin jeder Ton, sei er auch noch so intensiv empfunden, wie selbstverständlich, wie ein Naturgeschenk über die Lippen. Genauso musizieren die Philharmoniker unter Franz Welser-Möst auch Verdi, als sei das alles immer so gewesen, immer so zu hören, gar nicht anders zu denken. Weit geatmete Bögen und kleinteilig geformte Details in allen Registern – das ist kein Widerspruch, sondern die Realität des genialen Puzzlespiels einer solchen Opernpartitur. Selbst dort, wo die Irritationen der handelnden Figuren von unzähligen kleinen Instrumental-Kommentaren illustriert werden, fehlt nie das Wissen um den Zusammenhang der Bilder im Ganzen des dramatischen Panoramas.

Große Oper, auch im kleinsten Detail

Das ist große Oper, vor allem, wenn die Besetzung von so idealem Zuschnitt ist wie diesmal. Ramon Vargas, erstmals in der Titelpartie der italienischen Version: intensiv, bemitleidenswert verloren im Dickicht der Gefühle, zerbrechlich-sensibel und doch zu immensen Steigerungen in den Duetten mit der Geliebten fähig. Simon Keenlyside als Posa: lyrisch-subtil noch im heldischen Aufbäumen gegen das Schicksal. Der Bariton hat Kern, Kraft gewonnen, aber nichts vom edlen Ebenmaß der Linienführung verloren.

Luciana D'Intino ist die Eboli wie ein Gast aus einer Gegend, in der rauere Winde wehen, ein Offroader-Modell von einem Mezzo; und doch: wie diszipliniert geführt, bei aller Kraft der Tongebung, im „Schleierlied“ wie in den pulsierenden Passagen des „Don fatale“; vokale Charakterisierungskunst auch das: Diese Frau beherrscht ihre vulkanösen Emotionen ja letztlich doch.

Kein Wunsch bleibt auch bei den Besetzungen der kleineren Partien vom kaiserlichen Mönch über den Pagen bis zum Herold offen. Eine so makellos schwebende „Stimme vom Himmel“ wie die Valentina Nafornitàs hört man nicht bei allen Ketzerverbrennungen. Eine Premiere, fürwahr, oder jedenfalls ein Déjà-entendu-Erlebnis nach langer Zeit: So aufregend war Oper schon einmal . . .

Auf einen Blick

Don Carlos, in der italienischen Version „Don Carlo“, erlebte seine neunte Neuinszenierung im Haus am Ring seit 1932. Regie: Daniele Abbado. Bühne: Angelo Linzalata.

Unter Franz Welser-Möst singen Krassimira Stoyanova, Luciana D'Intino, Ramon Vargas, Simon Keenlyside, René Pape und Eric Halvarson. Reprisen: 22., 26., 29. Juni.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2012)

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