Frankreichs stolze Serie von 23 Spielen ohne Niederlage fand gegen Schweden ein unrühmliches Ende. Vor dem Viertelfinalduell mit Spanien wurde aus französischem Selbstvertrauen Verunsicherung.
Kiew. Laurent Robert Blanc erinnert sich gern zurück. An Momente, die in Frankreich auf Lebzeit niemand vergisst. 1998 krönte sich die „Grande Nation“ im eigenen Land zum Weltmeister. Zwei Jahre später begeisterte die von Kapitän Blanc angeführte Mannschaft mit dem Europameistertitel. Frankreichs Fußballer wurden wie Götter verehrt, schlüpften in die Rollen der unumstrittenen Volkshelden. 2012 hofft man auf die Wiedergeburt solcher, denn Skandale und Enttäuschungen hat das stolze Frankreich in der jüngeren Vergangenheit zur Genüge erfahren.
Seit zwei Jahren liegt ein Graben zwischen Fans und Mannschaft, der sich nur langsam schließt. Ein Spielerstreik und öffentlich ausgetragene Streitereien begleiteten das peinliche Ausscheiden in der Gruppenphase der Weltmeisterschaft in Südafrika. In der Heimat wurde eine Welle der Empörung ausgelöst, die bis heute nicht gänzlich abgeflaut ist. „Diese Narbe wird ewig bleiben“, glaubt Teamchef Blanc, der nach der WM den viel gescholtenen Raymond Domenech beerbte.
Jugend an die Macht
Blanc leitete eine Neuausrichtung der „Equipe Tricolore“ ein, setzte verstärkt auf junge Kräfte mit Perspektive. Samir Nasri oder Karim Benzema (beide 24) nehmen Schlüsselrollen in seinem System ein, zudem vertraut er Spielern wie dem erst 21-jährigen Yann M'Vila. 14 der 23 nominierten Spieler sind 26 Jahre oder jünger. Kritiker suchen verzweifelnd die notwendige Routine innerhalb der Mannschaft, Blanc entgegnet ihnen mit sportlichem Erfolg. Ohne zu glänzen, erreichte Frankreich als Gruppenzweiter hinter England das Viertelfinale. Für den 46-Jährigen ist „das erste Ziel“, wie er es formuliert, erreicht. „Ich erinnere daran, dass Frankreich bei den letzten beiden internationalen Wettbewerben nicht die Vorrunde gemeistert hat. Das ist die Realität“, wurde der einstige Weltklasse-Verteidiger noch vor Turnierbeginn nicht müde zu betonen.
Blanc ist zufrieden mit der Entwicklung seiner Elf. Zumindest war er es, bis sie im abschließenden Gruppenspiel Schweden mit 0:2 unterlag und kaum wiederzuerkennen war. Dem Teamchef missfiel Grundlegendes. Die bereits ausgeschiedenen Skandinavier hatten „viel mehr Herz gezeigt“, als es die Franzosen taten. Von der fehlenden spielerischen Klasse war da noch gar nicht die Rede. „Wir müssen vergessen, was heute passiert ist“, sprach ein enttäuschter und enttäuschender Franck Ribéry in die Diktiergeräte entsetzter französischer Journalisten.
Durch Englands Schützenhilfe (1:0 gegen die Ukraine) blieb Frankreichs herzloser Ausrutscher ohne Folgen. Fast. Denn im Viertelfinale trifft man nun nicht auf das vermeintlich einfacher zu bezwingende Italien, sondern auf Welt- und Europameister Spanien. Die stolze Serie von 23 Spielen ohne Niederlage erfuhr ein unrühmliches Ende. Aus Selbstvertrauen wurde Verunsicherung. „Bis heute Abend haben wir gezeigt, dass wir ein starkes Team sind. Heute war das nicht zu erkennen“, gestand Torhüter Hugo Lloris. Frankreichs Presse schoss sich über Nacht auf Ribéry und Co. ein. „Demütigend“ schrieb „Le Figaro“, als „beängstigend“ empfand die Vorstellung „Le Parisien“.
Blancs junge Garde hat in 90 Minuten trotz des Erreichens des Viertelfinales viel an mühsam zurückgewonnenem Kredit verspielt. Aus dem Kreis der Titelanwärter hat man sich – zumindest vorerst – verabschiedet. Blancs Ansage klingt dabei nicht nach Understatement. „Wir brauchen eine Heldentat, um die Spanier zu schlagen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2012)