"Brüder": Die Guillotine wird wieder ausgepackt

Guillotine wird wieder ausgepackt
Guillotine wird wieder ausgepackt(c) Dumont Verlag
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Hilary Mantels zwanzig Jahre alter Roman "Brüder" wurde nun ins Deutsche übersetzt. Für manche Historiker ist es die beste literarische Verarbeitung der Französischen Revolution.

Das Brot. Es ist Herbst in Frankreich im Jahr 1774 und vier Pfund kosten elf Sous, ein Jahr später sind es 14. Die Löhne sind freilich nicht gestiegen. Im Mai 1775 wird in Paris auf dem Place de Grève ein Sechzehnjähriger gehängt, der eine Bäckerei plünderte. Ein Exempel soll statuiert werden. Es folgen weitere Missernten, viel Regen, Brotaufstände im ganzen Land. Die darauf folgenden Preisregulierungen sind nur Tröpfchen auf dem heißen Stein.

„Das Brot ist Dreh- und Angelpunkt“, schreibt Hilary Mantel, „Spekulationsobjekt, Grundlage sämtlicher Theorien drüber, was als Nächstes geschehen wird.“ Vierzehn Jahre nach der Erhängung des Burschen – es ist Mitte Juli – kostet das Brot so viel wie seit sechzig Jahren nicht mehr. Die Bastille wird gestürmt. Ein paar Jahre später wird König Louis XVI. als Bürger Louis Capet zum Place de la Révolution (heute: Place de la Concorde) geleitet, wo die Guillotine auf ihn wartet.

Und zwischendurch passiert so viel, wer kann und soll das alles erzählen? Hilary Mantel kann. Eigentlich hat die britische Autorin bereits 1992 die Guillotine vor dem geistigen Auge wieder aufleben lassen: Damals erschien „A Place of Greater Safety“, ein gewaltiger Roman über die Revolution, der ihr viel Aufmerksamkeit und Anerkennung eingebracht hat. Genau 20 Jahre später liegt mit „Brüder“ die deutsche Übersetzung vor. Seltsam eigentlich, dass es so lange gedauert hat. Das Buch ist eine Entschädigung für alle langweiligen Geschichtslehrer dieser Welt. Ein 1100 Seiten starker Gänsehautfabrikant.

Gewissenhaft und detailreich verfolgt Mantel die Lebenslinien von Maximilien de Robespierre, Camille Desmoulins und Georges Danton – drei „Brüder“, die Architekten der Revolution. Rund um die Protagonisten tauchen Unmengen an Nebenfiguren auf. Es sind Ehefrauen, Affären, Advokaten, Journalisten, Jakobiner. Mantel lässt sie miteinander schlafen, reden, streiten. Viel ist historisch belegt, einiges Fiktion. Das Credo der Autorin lautet dabei: „Was besonders unwahrscheinlich klingt, ist vermutlich wahr.“

Der gemeine Pariser. Den einzelnen Figuren – den „Brüdern“ und ihrem Dunstkreis – widmet Mantel die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt. Genau das hat ihr auch einiges an Kritik eingebracht. Wo ist eigentlich das Volk, der gemeine Pariser? Stimmt schon, sie tauchen nur sporadisch auf. So steht Georges Danton rund zehn Jahre vor dem Sturm vor der Bastille und lässt sich von einem Passanten erzählen, dass es im Gefängnis von Ratten nur so wimmelt. Dann verschwindet der Pariser wieder in Paris. Aber ganz ehrlich: Es muss nicht jeder Zeitgenosse zu Wort kommen. Außerdem vermittelt Mantel keineswegs das Gefühl, die Revolution „von oben herab“ zu betrachten.

Ein Kritikpunkt, über den aber sehr wohl diskutiert werden kann, ist die Tatsache, dass der Leser die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion bisweilen nicht unterscheiden kann. „Brüder“ ist zu wenig für ein wissenschaftliches Buch, zu wenig für eine profunde Biografie – aber zu viel für einen historischen Roman (dasselbe gilt im Übrigen für Mantels Buch „Wölfe“, in dem Thomas Cromwell zum Leben erweckt wird. Dafür wurde ihr 2009 der Booker Prize verliehen).

Während „Brüder“ für den bekannten Frankreich-Historiker Colin Jones die beste literarische Verarbeitung der Revolution ist, meint die britische „Independent“, dass Mantel eine „Soap Opera“ kreiert habe. Zugegeben, die Geschichte, wie Mantel sie erzählt, hätte durchaus Potenzial für eine Telenovela: Desmoulins ist blass, bisexuell und nur aus dem Grund mit einem Mädchen verlobt, damit er mit seiner Schwiegermutter in spe schlafen kann. Von Soap Opera kann aber deswegen nicht die Rede sein, weil wir ein paar hundert Seiten später Desmoulins zum Place de la Révolution begleiten, wo die Guillotine diesmal auf ihn wartet. Kein Happy End.

Mantel hat fast 20 Jahre an diesem Buch gearbeitet. Ihr Schreibstil ist unaufgeregt, fast wirkt es wie ein Drehbuch: „Wir schreiben jetzt Mai 1788. Der König hat die Abschaffung der Parlamente verkündet. Einige ihrer Mitglieder stehen unter Arrest. Die Staatseinnahmen betragen 503 Millionen, die Ausgaben 629 Millionen.“ Das und die Brotpreise – wir steuern unweigerlich auf die Revolution zu.

Hilary Mantel "Brüder". Übersetzt von Sabine Roth und Kathrin Razum. Dumont Verlag, 1100 Seiten, € 22,99

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2012)

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