"Girl" im Kino: Mit Wechselschritten in den Frauenkörper

Kein Diskriminierungsdrama: An der Tanzakademie ist Laras (Victor Polster) Geschlecht kein Thema.
Kein Diskriminierungsdrama: An der Tanzakademie ist Laras (Victor Polster) Geschlecht kein Thema.(c) Thimfilm
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Lukas Dhonts "Girl" handelt von einer jungen Transfrau, die Primaballerina werden will - und sich zugleich auf eine Geschlechts-OP vorbereitet. In Europa wurde der Film wohlwollend aufgenommen, in Übersee sorgt er für Kontroversen.

Filme über Menschen, an deren bloßer Existenz sich gesellschaftspolitische Debatten entzünden – sei es aufgrund von Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität – wandeln oft auf einem schmalen Grat. Einerseits wollen sie die Menschlichkeit ihrer Figuren – das, was sie mit allen „anderen“ gemeinsam haben – in den Vordergrund rücken. Andererseits laufen sie so Gefahr, Probleme und Erfahrungen auszublenden, die sich nicht wirklich verallgemeinern lassen. Treibt man Ersteres ins Extrem, wirkt es weltfremd. Betont man Letzteres, geraten Kinohelden schnell zu ausdruckslosen Lehrbeispielen.

„Girl“, das Langfilmdebüt des belgischen Regisseurs Lukas Dhont, versucht einen Spagat zwischen diesen beiden Polen zu schlagen. Im Zentrum der Erzählung steht die 15-jährige Lara, die nur zwei Ziele vor Augen hat: Sie will Primaballerina werden – und eine richtige Frau. Dank der Aufnahme an einer prestigeträchtigen Akademie rückt der Traum von der Tanzkarriere in greifbare Nähe. Als letztes großes Hindernis zur Frauwerdung empfindet die als Bub Geborene indes ihren eigenen Körper – und wappnet sich per Hormonbehandlung für eine geschlechtsangleichende Operation.

Zuhause ist sie längst große Schwester

Ihr Umfeld steht dabei voll hinter ihr – „Girl“ will kein Diskriminierungsdrama sein. Laras alleinerziehender Vater zweifelt keine Sekunde an ihrer Entscheidung, für den kleinen Bruder ist sie längst große Schwester, Therapeuten und Ärzte reden ihr gut zu. Auch an der Akademie scheint ihr Geschlecht nie Thema zu sein. Wenn Lara auf dem Parkett ihre Pirouetten dreht, schimmert alles im seidigen Tageslicht, dem Glück scheint nichts im Weg zu stehen. Die Spannung, die sich dennoch aufbaut, kommt von innen. Denn Laras Bedürfnis, ihr angestammtes Ich vollständig hinter sich zu lassen, ist größer als ihre Geduld – befindet sie sich doch mitten in der Pubertät. Nach außen wahrt sie geflissentlich Fassung: Nicht immer ist erkennbar, ob ihre reservierte Anmut und anheimelnde Mimik (eine beachtliche Leistung des Jungdarstellers und Tänzers Victor Polster) etwas verbergen sollen oder nicht.

Der emotionale Druck ist jedenfalls beträchtlich; bewusst parallelisiert Dhont das (auch durch den Weichzeichner betrachtet) harte und aufreibende Körperdisziplinierungsregiment der Ballettschule, wo Lara ihre langen blonden Haare stets in einem strengen Nackenknoten trägt, mit den psychophysischen Belastungen der Hormontherapie. Dass diese beiden Kraftproben sich zusehends zu unterlaufen beginnen, macht alles nicht einfacher. In einer Szene, deren dramatische Rotlichtstimmung in herbem Kontrast zum Rest des Films steht, bricht hervor, wie groß Laras Unsicherheit immer noch ist: Bei einer Party fordern ihre sonst freundlichen Mitschülerinnen, ihren Penis zu sehen – eine unzumutbare Demütigung, die weiter gärt.

„Girl“ wurde in Cannes, wo er vergangenes Jahr in der Nebenschiene „Un Certain Regard“ Premiere feierte, mit zahlreichen Preisen bedacht – darunter jene für die beste Kamera und die beste Schauspielleistung, aber auch die unabhängig verliehene Queer Palm. In Europa hat man ihn bislang mit überwiegendem Wohlwollen aufgenommen. Nicht zuletzt dank einer Golden-Globe-Nominierung und der Entscheidung Belgiens, den Film als Oscar-Kandidat aufzustellen, wird ihm nunmehr auch in den USA größere Aufmerksamkeit zuteil.

Kritiker finden Film „gefährlich“

Dort fallen die Reaktionen weit weniger positiv aus. Kritik kommt in erster Linie von LGBT-Gruppen und Transrezensenten, die „Girl“ eine übertriebene Körperfixiertheit vorwerfen. Manche stufen Dhonts Fokus auf die innere Zerrissenheit seiner Protagonistin gar als „gefährlich“ ein – gegen Ende des Films kommt es nämlich, Achtung Spoiler, zu einer drastischen Handlung Laras; „Girl“-Gegner fürchten Nachahmungswirkung.

Auch der Umstand, dass weder Urheber noch Hauptdarsteller Transmenschen sind, wird moniert – erst im Juli zog sich Scarlett Johansson aus dem Biopic „Rub & Tug“ zurück, um vergleichbaren Anklagen vorzubeugen. Regisseur Dhont steht zu seinem Werk – und bekommt Rückendeckung von der belgischen Tänzerin Nora Monsecour, deren Lebensweg als Inspiration für „Girl“ diente. Dennoch könnte der Übersee-Start des Films holpriger verlaufen als gedacht: Netflix, zuständig für den US-Vertrieb, wollte ihn ursprünglich am 18. Jänner online veröffentlichen. Nun wartet der immerzu imagebewusste Streamingdienst doch etwas ab.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2019)

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