Im Sumpf der Extrementblößung

Lisette Model fotografierte die Reichen wie Karikaturen: Hier eine Dame mit Schleier, 1949 in San Francisco.
Lisette Model fotografierte die Reichen wie Karikaturen: Hier eine Dame mit Schleier, 1949 in San Francisco.Estate of Lisette Model
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Eine großartige Fotoausstellung zeigt die 1901 in Wien geborene Lisette Model als Wurzel einer ambivalenten künstlerischen Praxis zwischen Sozialpornografie und Empathie.

Es ist keine Überraschung, dass gerade Gerald Matt diese Ausstellung kuratiert hat (mit Rebekka Reuter): Brachte er als Wiener-Kunsthallen-Direktor 1998 Nan Goldin nach Wien, zeigte er doch 2000 die erste große Einzelausstellung der Wiener Exil-Fotografin Lisette Model hierzulande. Ergänzt um Diane Arbus, eine der populärsten US-Fotografinnen, entwirft Matt jetzt im Wiener Westlicht (zuvor im Flatz-Museum Dornbirn) die Genealogie einer Bildpraxis, die immer schon für Faszination und Ekel gleichermaßen sorgte: die Abbildung von Lebenswelten, die dem Durchschnitt „anders“ erscheinen. Gern sagt man in dem Fall, dass der Grat zwischen Sozialpornografie und Empathie dabei ein schmaler sei. Doch der Grat ist eher ein Sumpf. Und seine Sinktiefe hat mit der Fähigkeit des Betrachters zu tun, die eigene Angstlust am Schauen auf dieses „andere“ reflektieren zu können.

Bei Diane Arbus' Werk aus den 1960er-Jahren, das in seiner Konzentration auf Menschen jenseits der Norm wie eine Freak-Diashow wirkt, übernahm dieses Reflektieren die New Yorker Paradeintellektuelle Susan Sontag. Diese ging davon aus, dass die in eine Park-Avenue-Familie geborene Arbus mit ihrem Hang zum Abseitigen der eigenen Unschuld Gewalt antun wollte, um so ihr Gefühl, privilegiert zu sein, zu untergraben. Trifft dies etwa auch auf die in der Wiener Moderne sozialisierte Lisette Model zu, die 1937 die Urform von Sozialpornografie in die USA exportierte? Könnte man über diese Zusammenhänge sogar die heutigen Exhibitionismusformen in TV und Social Media als Privilegierten-Neurose betrachten, die im jüdischen Wiener Bürgertum begann?

Die rund 100 Bilder umfassende Ausstellung geht nicht so weit, beschränkt sich auf die Aneinanderreihung dreier Werke, beginnend mit Model, die in Wien, wo sie 1901 geboren wurde, immer noch zu wenig bekannt ist – was sich 2021 ändern sollte, wenn die Albertina eine große Personale zeigt.

Sie isolierte Figuren, vergrößerte sie

Model pflegte noch einen durchaus ironischen Blick auf gesellschaftliche Extreme, ihre Reichen und Armen wirken wie Karikaturen. Ihre Schnappschüsse bearbeitete sie in der Dunkelkammer, isolierte die Figuren, wählte große Abzüge. Alles Dinge, die damals in der Fotografie noch als unseriös galten, aber schon in Richtung bildender Kunst weisen. Hier treten dokumentarischer Charakter, Objektivität, „Wahrheit“ radikal hinter eine offene künstlerische oder politische Mission zurück. Diane Arbus, eine Schülerin Lisette Models, die ja von 1951 bis zu ihrem Tod 1983 an der New School in New York unterrichtet hat, trieb diese Entwicklung mit dem Schritt vom Schnappschuss zum bewussten Posieren der von ihr Porträtierten weiter voran. Aber sie selbst verschwand dabei immer noch hinter der Kamera.

Diese Distanz von Arbus störte Nan Goldin und ihre Familie. Denn als Familie sah Goldin, 1953 geboren, die, die sie fotografierte. Nimmt man noch den Einfluss von Andy Warhols Factory dazu, liegt die Entwicklung von Model zu Arbus und zu Goldins Fototagebüchern über ihr Leben in New Yorks Schwulen- und Transgenderszene in den 1970er- und 1980er-Jahren frappierend klar vor einem. Die Distanz zwischen Fotografin und Abgebildeten ist hier aufgehoben, auch die Fotografin selbst zeigt sich immer wieder. Die Nähe zu Tod und Sex ist bis aufs Unerträgliche gesteigert bzw. bis auf das, was in den 1980ern noch als unerträglich gegolten hat. Denn kurz darauf setzte schon die Kommerzialisierung genau dieser grausamen Intimität des Verfalls ein – der „Heroin Chic“ wurde auch durch Goldins Fotos wesentlich beeinflusst. Es folgte die radikale Selbstdarstellung. In der Kunst. Im TV. Auf Instagram. Ein Riesensumpf, aus dem oft nur noch die Handykameras ragen.

Model Arbus Goldin, bis 24. 3., Westbahnstr. 40, Wien 7, Di, Mi, Fr: 14–19h, Do: 14–21h, Sa, So, Feiertag: 11–19h.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2019)

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