„Ich glaube, wir hätten den Krieg im Irak verhindern können“

Die Presse (Fabry)
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Kofi Annan blickt zurück auf seine schwärzesten Momente als Generalsekretär der Vereinten Nationen und erklärt, wie er als Pensionist seinem Heimatkontinent Afrika helfen will.

Die Presse: Wie hat sich Ihr Leben verändert seit dem 31.Dezember 2006, seit Sie nicht mehr UN-Generalsekretär sind?

Kofi Annan: Vor allem trage ich nicht mehr die Last der schweren Verantwortung, die ich als UN-Generalsekretär hatte. Ich überlege mir nicht mehr jede Nacht beim Schlafengehen, mit welcher Krise ich am nächsten Morgen aufwache. Die letzten zehn Jahre waren sehr turbulent. Jetzt kann ich mir aussuchen, womit ich mich beschäftige.

Von Trygve Lie, dem ersten UN-Generalsekretär, stammt das berühmte Zitat, dass es der unmöglichste Job der Welt sei, UN-Generalsekretär zu sein. Stimmen Sie zu?

Annan: Manche vergleichen den UN-Generalsekretär mit einem Vorstandsvorsitzenden. Ich wünschte, das wäre der Fall. Vorstandsvorsitzende haben einen viel kleineren Aufsichtsrat. Ich musste 192 Herren dienen. Vorstandsvorsitzende haben auch einen viel engeren Denkansatz: Maximierung von Profiten für sich selbst und ihre Aktionäre. Als UN-Generalsekretär ist man in einer vollkommen anderen Situation. Es ist ein extrem herausfordernder Job, aber einer muss ihn machen.

Sie galten bei Ihrer Wahl zum UN-Generalsekretär als Kandidat der Amerikaner. Am Ende Ihrer Amtszeit wurden Sie zur Zielscheibe in den USA. Was hat diesen Stimmungswandel ausgelöst?

Annan: Ich war dankbar für die Unterstützung der USA und anderer Staaten. Der Sicherheitsrat und die Generalversammlung haben mich einstimmig gewählt. Ich habe mit allen Regierungen gut zusammengearbeitet, die USA eingeschlossen. Wenn sich das geändert hat, dann wegen der Irak-Krise. Man kann beinahe eine Linie ziehen zwischen der Zeit vor und nach den Anschlägen vom 11.September 2001. Die Spannungen, die dann in der Irak-Krise entstanden, betrafen nicht nur das UN-Generalsekretariat, sondern auch US-Verbündete rund um die Welt. Und das ist verständlich.

Wann erkannten Sie, dass der Krieg unvermeidlich sein würde?

Annan: Ich glaube nicht, dass man jemals einen Krieg als unvermeidlich akzeptieren sollte. Es war offensichtlich, dass die USA im Irak handeln wollten. Viele von uns arbeiteten sehr hart daran, den Atominspektoren zu ermöglichen, ihre Arbeit zu tun. Wir versuchten bis zur allerletzten Minute, den Krieg zu verhindern: Wir sprachen mit den Regierungen, wir versuchten es im Sicherheitsrat. Dass man den Krieg hat kommen sehen – sei das jetzt 2002 oder Anfang 2003 –, durfte zu keinem Zeitpunkt eine Ausrede sein, sich zurückzulehnen und zu sagen, der Krieg ist unvermeidlich, und man kann nichts tun.

Hätte dieser Krieg verhindert werden können?

Annan: Ich glaube, wir hätten den Krieg im Irak verhindern können. Wenn man den Inspektoren mehr Zeit gegeben hätte, ihre Arbeit zu tun. Wenn jedes Mitgliedsland zugestimmt hätte, nach den Regeln zu spielen und auf eine Resolution des Sicherheitsrats zu warten und erst nach einer Resolution aktiv zu werden. Dann hätte es keinen Krieg gegeben. Aber nachdem einige Nationen entschieden haben, außerhalb des Sicherheitsrats zu agieren, dann passiert das, was Sie vorhin „unvermeidlich“ genannt haben.

Warum sind Sie nicht nach Bagdad geflogen, um Saddam Hussein den Ernst der Lage klarzumachen, wie Sie das 1998 getan haben?

Annan: Im Februar 1998 waren die Umstände andere, und es gab eine spezifische Anfrage an mich zu intervenieren. Ich konnte damals Saddam überzeugen, seine Paläste für die Inspektoren zu öffnen. Ich konnte ihm klarmachen, dass es lächerlich wäre zu erlauben, dass sein Land bombardiert wird, weil er sich weigert, seine Paläste zu öffnen. Doch was hätte ich ihn im Jahr 2003 fragen sollen? Hätte es einen Unterschied gemacht – angesichts der Einstellung der USA gegen Saddam? Was hätte Saddam tun sollen? Ins Exil gehen, wie manche gemeint haben? Wohin?

Es war die Rede von Libyen?

Annan: Nein, nein.

Haben Sie mit Saddam Hussein über die Exil-Option gesprochen?

Annan: Andere haben mit ihm gesprochen, eine ganze Menge Leute. Ich nicht. Saddam hat üblicherweise nicht am Telefon gesprochen.

Vielleicht hätte der Krieg vermieden werden können, wenn ein Land angeboten hätte, Saddam Hussein aufzunehmen.

Annan: Das ist alles sehr hypothetisch: „Wenn... dann... wäre... vielleicht...“ Ich bin nicht sicher, ob er ein Exil akzeptiert hätte. Und ich weiß auch nichts von einem echten Angebot eines Landes, ihn aufzunehmen.

Haben Sie jemals bereut, dass Sie sich nicht deutlicher gegen den Krieg ausgesprochen haben?

Annan: Ich habe mich bereits sehr früh gegen diesen Krieg ausgesprochen. In diplomatischen Kreisen, vor allem bei den Vereinten Nationen, ist es nicht üblich, aufs Dach zu steigen und herumzuschreien, wenn man versucht, die Entscheidungen von Regierungen zu beeinflussen. Man sucht andere Wege, um sich Gehör zu verschaffen. Ich habe schon 2002 gesagt, dass ein Angriff auf den Irak desaströs wäre. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass der UN-Sicherheitsrat zustimmen muss. Das habe ich wieder und wieder gesagt, ich habe sogar das Wort „illegal“ verwendet. Aber was sonst noch sollte ich tun?

Wie haben Sie diese Nacht erlebt, als am 20. März 2003 in Bagdad die Bomben fielen?

Annan: Ich hatte eine sehr schlechte schmerzvolle Nacht. Man denkt an die Menschen, die nun von diesem Krieg betroffen sein würden. Man denkt aber auch bereits daran, wie man diesen Krieg zu Ende bringen, wie man Frieden bringen kann und wie man die Situation im Irak normalisieren kann. Ich glaube nicht, dass Sie sich diesen Druck vorstellen können, wenn Sie ihn nicht selbst erlebt haben. Man fragt sich ständig, wie hätte man das verhindern können? Bevor auch nur ein Schuss gefallen ist, sind Millionen Menschen auf die Straße gegangen, um gegen diesen Krieg zu demonstrieren. Regierungen wollten den Krieg verhindern; der Sicherheitsrat versagte die Unterstützung für den Krieg. Als dieser dann losbrach, war es sehr schwierig zu verdauen.

War es denn hilfreich, dass Russland, Frankreich und Deutschland einen Krieg ausschlossen, egal, ob Saddam Hussein die UN-Resolutionen erfüllen würde oder nicht?

Annan: Um eine Sicherheitsratsresolution durch den Sicherheitsrat zu bekommen, braucht man neun von 15 Stimmen. Mit einem Veto kann man eine Resolution blockieren, aber mit einem Veto kann man keine Resolution erreichen. Am Ende konnten die USA die neun Stimmen nicht bekommen. Ich weiß, dass man vor allem Frankreich vorgeworfen hat, dass Paris jede Resolution durch ein Veto blockieren würde, komme da, was wolle.

Aber das ist nicht fair: Auch andere Mächte haben immer wieder mit Veto gedroht. Es war eine Koalition von verschiedenen Ländern, die es den USA unmöglich machten, die Zustimmung des Sicherheitsrats zu erhalten. Sogar Nachbarn wie Mexiko versagten die Zustimmung. Viele Länder waren der Meinung, dass dieser Krieg nicht autorisiert werden sollte.

Sie haben angedeutet, dass diese Zeit für Sie sehr deprimierend gewesen ist. Haben Sie dabei je an Rücktritt gedacht – oder danach, als Ihr Sohn in den Oil-for-Food-Skandal hineingezogen wurde?

Annan: Nein, ich hatte Arbeit zu erledigen. Außerdem, um ehrlich zu sein: Eine ganze Menge von dem, was man den Oil-for-Food-Skandal nennt, war fingiert.

Was meinen Sie damit?

Annan: Sehen Sie sich die Fakten an: Wenn es einen Skandal gegeben hat, dann in den Hauptstädten einiger UN-Mitglieder, aber nicht im UN-Hauptquartier in New York. Als der Bericht über das Oil-for-Food-Program herauskam, war deutlich, dass es 2000 Firmen gab, die mit Saddam Geschäfte machten, aus 66 Ländern. Die Irak-Resolution war eine Kapitel-7-Resolution. Jede Regierung sollte diese Resolution umsetzen. Doch sogar einige ständige Mitglieder des Sicherheitsrats sagten, sie hatten keine Kontrolle über diese Geschäfte. Dann schoben sie dem Generalsekretariat in New York den schwarzen Peter zu. Aber wir hatten nicht die Mittel, um diese Geschäfte zu kontrollieren. Dazu kam, dass Saddam sich seine Geschäftspartner aussuchen durfte, so sah es die Resolution vor.

Vielleicht war diese Resolution mangelhaft?

Annan: Ja, sie war mangelhaft.

Aber es war der UN-Beamte Benon Sevan verwickelt.

Annan: Es gab einen UN-Beamten, dem vorgeworfen wurde, dass er 150.000 Dollar genommen hat. Wenn man sich die Fakten und den Volcker-Report [in dem der Skandal aufgearbeitet wurde, Anm.] ansieht, erkennt man, dass die Probleme und diese Deals außerhalb des Sekretariats stattgefunden haben.

Aber wer sollte ein Interesse daran haben, die UN anzuschwärzen?

Annan: Das waren Leute, die die UNO zerstören wollten. Wir haben gesehen, was in Australien passiert ist, wo 300 Millionen Dollar bezahlt worden sind, um einen Auftrag im Irak zu bekommen. Aber irgendwie interessierte das niemanden, sondern es hieß immer nur: die UNO, die UNO. Egal.

UN-Sonderberichterstatter Manfred Nowak hat kürzlich in einem „Presse“-Gespräch beklagt, dass die USA den „Goldstandard“ der Menschenrechte gesenkt haben. Das hält er für das eigentlich Betrübliche, dass ein Land, das stets die Menschenrechte verteidigt hat, nun zu den Menschenrechtsverletzern gehört.

Annan: Im Krieg gegen den Terror muss man effiziente Mittel anwenden, um unschuldige Bürger vor Schaden zu bewahren. Das heißt aber nicht, dass es einen Kompromiss zwischen Bürgerrechten und effizientem Handeln geben darf. Wenn man die Menschenrechte und den Rechtsstaat unterminiert, dann hilft man den Terroristen. Diese nützen diese Schwäche und verwenden das zur Rekrutierung. Da bin ich nicht weit von Herrn Nowak entfernt.

Wir haben also einige Jahre im Kampf gegen den Terror verloren?

Annan: Wir haben genug zu tun.

Sie waren von 1993 bis 1995 Chef der UN-Friedensoperationen? In diese Ära fallen die Katastrophe in Srebrenica (Bosnien), wo unter den Augen der Blauhelme 8000 Menschen getötet wurden, und auch der Völkermord in Ruanda mit 800.000 Toten. Wie hat dieses Versagen Ihre Arbeit danach beeinflusst?

Annan: Niemand von uns, der in der UNO gearbeitet hat, wird Srebrenica und Ruanda jemals vergessen können. Aber ich hoffe, dass man es nicht nur als ein Problem oder Versagen von friedenserhaltenden Operationen sieht. Man muss das in größerem Zusammenhang sehen. Trotzdem: Wer diese Erfahrungen macht, muss schon sehr gefühllos sein, wenn er davon nicht gezeichnet ist und nicht versucht, alles zu unternehmen, dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen.

Haben Sie persönliche Verantwortung oder Gewissensbisse empfunden wegen Srebrenica und Ruanda.

Annan: Das ist keine Frage schlechten Gewissens. Hätten wir die Katastrophe verhindern können? Hätten wir mehr tun können, Menschen vor dem Mord zu retten? Wer darüber spricht, muss verstehen, wie die Vereinten Nationen strukturiert sind und wie sie funktionieren. Ich weiß, dass die Medien dazu tendieren zu sagen, die UNO hat versagt. Aber wer ist die UNO? Die UNO ist Ihre, meine und 190 andere Regierungen. Die UNO ist immer nur so stark, wie es ihre Mitgliedstaaten zulassen. Die UNO hat keine Armee, wir leihen uns die Blauhelme von den Regierungen. In manchen Situationen bekommen wir sie sehr schnell, in anderen nicht.

Wir müssen uns im Klaren sein, über welche UNO wir reden: über das Sekretariat der UNO oder über die UNO der Regierungen, die im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung sitzen, Resolutionen verabschieden, uns ein Mandat geben und hoffentlich auch die nötigen Ressourcen dafür.

Trotzdem: Hätte das UN-Generalsekretariat nicht lauter Alarm schlagen müssen, als das Morden in Ruanda losging?

Annan: Aber der UN-Sicherheitsrat war doch mit Ruanda befasst und vom UN-Generalsekretär unterrichtet. Es war kein Geheimnis, was in Ruanda vor sich ging. Was haben denn die Regierungen getan, als sie herausfanden, was in Ruanda passierte? Sie schickten Flugzeuge nach Ruanda, um ihre Landsleute herauszuholen. Sie haben nach dem Anschlag auf belgische Blauhelme die UN-Truppen in Ruanda verringert. Sie haben keine Soldaten geschickt, um das Töten in Ruanda zu beenden.

Heißt das, dass der UN-Generalsekretär die Mittel haben sollte, ein General zu sein und eigene Blauhelme zu entsenden. Sollte es eine UN-Armee geben?

Annan: Den Vorschlag, dass die UNO eine stehende Armee haben soll, um schnell reagieren zu können, gibt es schon seit einer Weile. Aber es gibt dafür keine Unterstützung seitens der Regierungen. Ich erkläre Ihnen, wie die UNO heute verpflichtet ist, friedenserhaltende Operationen durchzuführen. Es funktioniert ungefähr so, wie wenn man dem Bürgermeister von Wien sagt: Herr Bürgermeister, wir wissen, es wird eines Tages in Ihrer Stadt brennen, und wenn es passiert, werden Sie die Feuerwehr brauchen, aber wir werden die Feuerwehr erst dann aufbauen, wenn das Feuer ausbricht. Erst wenn Konflikte ausbrechen, kommt der Sicherheitsrat zusammen, um darüber zu diskutieren. Und dann verabschiedet er eine Resolution für den Einsatz von Blauhelmen, um die wir erst Regierungen bitten müssen. Wir sind gezwungen, so weiter zu operieren und zu versuchen, die Stationierung zu beschleunigen. Wenn man schnell stationiert, kann man ein Problem im Keim ersticken. Aber heute dauert es mehrere Monate, bis Truppen entsandt werden können.

Manche Experten denken, dass die Friedensoperationen auch von Privatarmeen durchgeführt werden können.

Annan: Ich glaube nicht, dass die UNO bereit ist dafür. Die Regierungen ziehen es vor, eigene Truppen zu entsenden, als Privatarmeen oder Söldner zu schicken.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Sie haben zusammen mit Bill Gates die „Allianz für eine grüne Revolution in Afrika“ gegründet.

Annan: Die Idee dieses Projekts ist es, mit afrikanischen Regierungen und Bauern zusammenzuarbeiten, um die landwirtschaftliche Produktivität auf dem Kontinent zu erhöhen. Wir wollen die gesamte Wertschöpfungskette maximieren: von der Qualität der Samen über die Fruchtbarkeit der Böden, die Lagerung bis hin zur Verarbeitung und zum Marketing. Unser Ziel ist es, dass Afrika die Lebensmittelherstellung in zehn Jahren verdoppelt oder sogar verdreifacht.

Werden Sie in den nächsten Jahren in Ghana oder Genf leben?

Annan: Ich werde gleich viel Zeit an beiden Orten verbringen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2007)

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