Gastkommentar

Unrecht ist, wenn Opfer als Täter angeklagt werden

Der Philosoph Theodor Adorno beschrieb Antisemitismus als „das Gerücht über die Juden“. Am Internationalen Strafgerichtshof erleben wir, wie das „Gerücht über Israel“ zu einer Täter-Opfer-Umkehr führt. Der Mechanismus ist bekannt, die Folge fatal. Ein Gastkommentar vom Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

Eine Lüge wird nicht wahrer, wenn sie oft wiederholt wird. Aber sie wird von immer mehr Menschen gehört, wiedergegeben und setzt sich im Bewusstsein fest. Das gilt für zwischenmenschlichen Tratsch ebenso wie für geopolitische Entwicklungen. Propaganda zielt genau darauf ab. Erfolgreiche Propaganda ist jene, die unbemerkt in redaktionelle Berichterstattung und in das politische Geschehen einfließt. So sind Moskaus Versuche zu verstehen, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine umzudeuten. Diverse Accounts in Sozialen Netzwerken und rechtsextreme Parteien in der EU betreiben seit Beginn der russischen Invasion eine Täter-Opfer-Umkehr. Bisher mit wenig Erfolg.

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Erfolgreicher sind jene, die sich antisemitischer Stereotype bedienen. Wenn Israel das Objekt von Desinformation ist, überschwemmen plötzlich auch kritische Köpfe Internet, Talkshows und politische Debatten mit Lügen oder auf Lügen basierenden Interpretationen. „Das Gerücht über die Juden“, wie der Philosoph Theodor Adorno Antisemitismus definierte, bleibt hängen. Alles im Namen der Moral.

So ist auch der Antrag auf Haftbefehl gegen drei Terrorpaten der Hamas sowie den israelischen Regierungschef und den Verteidigungsminister am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu lesen. Karim Khan, Ankläger am IStGH, hat mehr als sieben Monate gebraucht, um die Vergewaltigungen, die Folterungen, den Massenmord und die Entführung von mehr als 200 Menschen aus Israel nach Gaza anzuklagen. Warum im Antrag der Beschuss israelischer Städte durch mehr als zehntausend Raketen aus Gaza nicht vorkommt, mögen andere kommentieren. Bisher war dazu in Österreich nichts zu hören. Wenig Beachtung findet bisher auch der Umstand, dass Hunderte auf Israel gerichtete Hamas-Raketen in Gaza selbst einschlugen.

Wie darf sich ein Staat vor genozidalen Massaker schützen?

Was sehr wohl zu lesen war: Gegen den israelischen Regierungschef sei ein Haftbefehl erlassen worden. Das ist falsch, handelt es sich doch zunächst um einen Antrag an das Gericht. Vor allem aber konzentriert sich die ideelle Verurteilung auf die Strategie, die zur Befreiung von immer noch mehr als 100 Geiseln und die Verhinderung weiterer genozidaler Massaker der Hamas gegen Israels. Ja, es geht um ein militärisches Vorgehen in einem Krieg, den Terroristen aus Gaza mit dem grausamsten antisemitischen Massaker seit dem Holocaust vom Zaun gebrochen haben.

Der IStGH verfolgt keine Staaten, er befasst sich mit natürlichen Personen. Der Antrag gegen Israels Premier und den Verteidigungsminister ist somit als Anklage Israels per se zu verstehen. Die Empörung über den IStGH-Ankläger ist daher selbst in der israelischen Opposition enorm. Die erbittertsten Gegner Netanyahus aus allen ideologischen Richtungen kritisieren den Ankläger und weisen die Anschuldigungen entschieden zurück.

Das Mandat des IStGH bezieht sich auf Kriegsverbrecher, wie es die Terroristen der Hamas unzweideutig sind. Sie haben die Gräueltaten dokumentiert und machen aus ihrer Absicht, diese zu wiederholen, keinen Hehl. Das müssen sie nicht, sie haben ja ihre Verbündeten in der UNO, die mehrheitlich aus Diktatoren und Autokraten besteht. Und sie haben ihre Apologeten, die Lügen und Gerüchte über Israel nur allzu gerne verbreiten oder oft genug gehört haben, um sie für wahr zu halten.

Der einzige demokratische Staat, der jüdisch geprägt ist, eignet sich hervorragend für die Dämonisierung des Judentums. Da muss man das Rad nicht neu erfinden. Im Mittelalter wurde behauptet, dass Juden Brunnen vergiftet hätten, und schon war ein Pogrom losgetreten. Juden würden Kinder töten, war eine weitere, geradezu beliebte Anschuldigung. Dass die Gerüchte nicht stimmten, war egal. Viele Juden waren ermordet, die übrigen vertrieben. Amen.

Haben wir aus der Geschichte gelernt?

Im Antrag von Herrn Khan lautet ein Vorwurf gegen die Regierungsspitze Israels, sie hätte Hunger und Durst als Kriegswaffe eingesetzt. Seit vielen Wochen kursieren derartige Vorwürfe auch in österreichischen Medien. Unmittelbar nach dem 7. Oktober wurde verbreitet, Israel hätte die Trinkwasserzufuhr des Gazastreifens abgeriegelt. Dass bis dahin nur sieben Prozent des Trinkwassers in Gaza aus Israel kam, war und ist wenig bekannt. Für die Einordung des Geschehens wäre es allerdings hilfreich gewesen.

Die Dämonisierung Israels schreitet mit diesem Antrag beim IStGH munter voran. Allein der Antrag ist ein Zeichen für die Politisierung und Desavouierung des Gerichtshofs. Damit unterfüttert Herr Khan die Proteste auf den Straßen Österreichs, Europas und der gesamten Welt mit pseudo-juristischen Argumenten. Dies trägt wiederum zu einer weiteren Gefährdung für Juden und Jüdinnen bei. Die Glaubwürdigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ist massiv beschädigt und die Schlächter dieser Welt lachen sich ins Fäustchen.

Oskar Deutsch ist Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) und der Israelitischen Religionsgesellschaft Österreich (IRG)

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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