Literatur: Das Wunder von "Alice im Wunderland"

Literatur Wunder Alice Wunderland
Literatur Wunder Alice Wunderland(c) AP (CHARLES DODGSON)
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Vor 150 Jahren wurde das vielleicht berühmteste Kinderbuch geboren. Über sein Geheimnis, die "echte" Alice, Drogen und die umstrittene Liebe von Lewis Carroll zu kleinen Mädchen.

Ein Mädchen sitzt schläfrig am Flussufer, als es ein weißes Kaninchen vorbeirennen sieht, das „O weh, o weh! Ich werde zu spät kommen“ ruft und eine Uhr aus der Westentasche zieht. Das Mädchen folgt ihm – und was darauf folgt, ist die berühmteste Kindergeschichte der Welt, abgesehen von Harry Potter und Grimms Märchen. Die abwechselnd winzige und riesige Alice, der Dodo, die blaue Raupe und die Grinsekatze, die verrückte Teegesellschaft, bei der es immer sechs Uhr ist etc. – diese Figuren haben sich so tief in die Populärkultur eingegraben, dass die Flut an Bearbeitungen und Anspielungen bis heute nicht nachlässt. Aber nicht nur Batman und Tim Burton, die Beatles und Tom Waits, japanische Mangas und Pornos huldigen ihnen. Kein anderes Kinderbuch hat auch Philosophen und Sprachtheoretiker herausgefordert wie der verrückte Kosmos, dessen Urknall vor 150 Jahren im Kopf eines englischen Mathematikprofessors mit Hang zum gescheiten Unsinn stattgefunden hat, genauer gesagt: am Nachmittag des 4. Juli 1862.

Welches andere Werk hat schon einen derart zelebrierten Schöpfungsmythos?

„Carroll-Mythos“: Pädophilie, Nacktfotos

Am „Independence Day“ der USA begeht Oxford den „Alice in Wonderland Day“. Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll lehrte dort am Christ Church College und war mit den Töchtern des Dekans gut bekannt. Am 4. Juli wollten die Mädchen auf einer Bootsfahrt unbedingt eine Geschichte hören. Eine der Schwestern war so begeistert, dass sie darauf bestand, er müsse sie aufschreiben. Es war die zehnjährige Alice Liddell – die „echte“ Alice, wie sie bald nach Erscheinen von „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ genannt wurde.

Denn die Alice-Mania kam schon im viktorianischen England auf. Bald wurde das Buch gut ins Deutsche übersetzt, traditionsstiftend war nach dem 1. Weltkrieg die Neuübersetzung einer Journalistin der „Neuen Freien Presse“, Helene Scheu-Riesz. Ihretwegen saß Alice noch 18 weitere deutsche Übersetzungen auf der Bank („bank“) statt am Ufer, was nicht weiter ins Gewicht fiel. Heute aber ist der Autor kaum von der Stelle zu rücken, an die er vor langer Zeit unsanft gesetzt wurde. 1933 deutete der Aufsatz „Alice in Wonderland Psychoanalyzed“ das Buch als Ausdruck verdrängter Begierde nach kleinen Mädchen: Generationen von Biografen fanden das überzeugend, auch „Lolita“-Autor Vladimir Nabokov, der „Alice im Wunderland“ als Erster ins Russische übersetzte. Carroll, der Pädophile, war geboren. Heute versucht eine Reihe von Forschern, mit diesem „Carroll-Mythos“ aufzuräumen. Tagebücher und Briefe, die lange von seiner Familie zurückgehalten wurden, widerlegen das Bild des sexuellen Sonderlings, der sich von erwachsenen Frauen fernhält. Sie zeigen Carroll nicht nur als ausgesprochenen Freund kindlicher, sondern auch erwachsener weiblicher Gesellschaft. Carroll war nie verheiratet, hatte aber unzählige Freundinnen, die er gern, auch wenn sie über 20 waren, „Child-friends“ nannte. Der Ausdruck wurde als Beleg für seine perverse Neigung interpretiert, hatte aber für ihn eine spezielle Bedeutung im Sinn einer besonders engen Verbindung.

Aber was ist mit den zwischen naiv und lasziv schillernden Aufnahmen, die der großartige Amateurfotograf von kleinen Mädchen machte? Hier verweisen Experten auf den viktorianischen Kindheitskult. Nackte Kinder standen für Unschuld und waren sogar ein beliebtes Weihnachtskartenmotiv.

Die dunkelhaarige, hübsche Alice Liddell stand Carroll mehrmals Modell. Doch die Welt stellte sich Alice im Wunderland lange so vor wie Karikaturist John Tenniel. Seine ursprünglich schwarz-weißen Ilustrationen zeigen die „klassische“ Alice mit langem glatten Haar (spätere Kolorierungen machten sie blond, so blieb sie in Verfilmungen). Auch das gehört zur atemberaubenden Wirkung der Geschichte: wie sie Maler inspirierte, etwa Salvador Dalí zum zwölfteiligen Bilderzyklus. Eben erschien eine britische Neuausgabe mit Bildern der wichtigen Japanerin Yayoi Kusama. Kürzlich gestand ein Drogenkurier, er habe einen Teil seiner Ware im Kaninchenloch versteckt, „Alice im Wunderland“ habe ihn auf die Idee gebracht. In der Popmusik der 1960er wurde das „Wunderland“ zum Drogenland. Die Beatles huldigten ihm mit „I Am the Walrus“, vor der Komposition ihres psychedelischen Songs „Lucy in the Sky with Diamonds“ sollen sie ausführlich über Carrolls Buch diskutiert haben. Freunde von Carroll rauchten Opium – dass er selbst es beim Schreiben geraucht haben soll, ist reine Spekulation. Am tiefsten hat der Text Schriftsteller inspiriert, vor allem James Joyce. „Wonderlawn's lost us for ever. Alis, alas, she broke the glass! Liddell lokker through the leafery, ours is mistery of pain”, heißt es in „Finnegans Wake“, veröffentlicht auf den Tag genau 80 Jahre nach Alices Sprung ins Kaninchenloch (am 4. Mai 1859). Joyce sah Carroll mit seinen an das Unbewusste rührenden Sprachspielereien als Vorläufer.

Abenteuer und Angst, Witz und Chaos

„Alice im Wunderland“ strotzt von verkehrter Logik, mathematischen und philosophischen Problemen, Wortspielen, Anspielungen etwa auf das viktorianische England und speziell Oxford. Aber zuallererst war und ist „Alice“ eine Geschichte, die eine Zehnjährige so begeisterte, dass sie sie aufgeschrieben haben wollte, eine Geschichte vom Klein- und Groß-Sein, vom kindlichen Welterleben, in der ein Mädchen auf sich allein gestellt ist und sich in einer unverständlichen und unfreundlichen Welt zu behaupten versucht, eine Geschichte voller Abenteuer und Witz, aber auch Angst und Chaos. Carrolls Wunderland lässt sich noch von Erwachsenen so erleben, wie Kinder im besten Fall das Leben erleben: immer wieder erschreckend, aber in jedem Fall fantastisch.

Auf einen Blick

Ausgaben: Nach wie vor erhältlich ist die texttreue erste deutsche Übersetzung von Antonie Zimmermann, die auch Lewis Carroll selbst gefiel, in einer schönen Ausgabe mit den nachkolorierten Originalillustrationen (Verlag Bassermann). Die klassische literarische Übersetzung von Christian Enzensberger, dem Bruder des Schriftstellers Hans-Magnus Enzensberger, ist eher für Erwachsene geeignet (Insel Taschenbuch). Eine legere Übersetzung gibt es auch von Barbara Frischmuth mit großartigen Illustrationen von Jassen Ghiuselev (Aufbau).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2012)

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