Kasachstan: Eine Jurte für Freizeitnomaden

Kasachstan Eine Jurte fuer
Kasachstan Eine Jurte fuer(c) Sommerbauer
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Vor 80 Jahren mussten die Kasachen ihr Nomadenleben aufgeben, aus Jurten in Häuser umziehen. Seit der Unabhängigkeit ist das Interesse an der eigenen Tradition wieder erwacht.

Je näher das Gebirge, desto höher die Jurtendichte. Doch in den Filzzelten am Rande der kasachischen Metropole Almaty nächtigen keine Nomaden. Dort, wo eine staubige Ausfallstraße ins Tian-Shan-Gebirge mit seinen zackigen schneebedeckten Spitzen führt, haben in den vergangenen Jahren Ausflugsrestaurants für gestresste Städter aufgemacht. Zwischen saftig grünen Wiesen stehen kasachische Köstlichkeiten wie Pferdefleisch auf der Speisekarte, und wer möchte, kann sein Mahl in einem mit Goldfäden bestickten Mantel einnehmen. Im Inneren der Jurten ist es angenehm kühl, doch auf die Annehmlichkeiten des Stadtlebens wird nicht verzichtet: Oberhalb des runden Festtisches baumelt eine Glühbirne. „Jurten-Restaurants sind sehr populär“, sagt Banu Bolisch, die im Restaurant „Schailau“ als Kellnerin arbeitet. „Die Menschen wollen raus aus der Stadt, etwas Neues sehen.“

Etwas Neues, was doch irgendwie vertraut ist. An das Jurtenleben kann sich in dem zentralasiatischen Land heute nur noch die Großelterngeneration erinnern. Einst zogen Viehhirten in der Steppe zwischen Sommer- und Winterweideplätzen umher. Zwischen 1929 und 1933 verfolgte die sowjetische Führung eine gnadenlose Politik der „Entnomadisierung“, um die Kasachen und andere (Halb-)Nomaden endgültig sesshaft – und zu sozialistischen Bauern – zu machen. Es war ein schmerzhafter Prozess: Die Nomaden töteten lieber ihr Vieh, als es den Parteiaktivisten zu überlassen; viele Hirten starben den Hungertod, andere wurden in Arbeitslager gesteckt. Die Bevölkerung der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik schrumpfte in diesen Jahren um zwei Millionen.

Mit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 wurde die in der Sowjetunion verpönte Nomadenvergangenheit wieder aus der Mottenkiste geholt. Im Kasachstan von Nursultan Nasarbajew – einem früheren Politbüro-Mitglied, das sich nunmehr als autokratischer „Führer der Nation“ feiern lässt – sind die Jurten zu Symbolen der „nationalen Wiedergeburt“ avanciert. Auf dem Staatswappen prangt die kreisförmige „Krone“ der Jurte; eine Shoppingmall in Zeltform hat der britische Stararchitekt Norman Foster Kasachstans Hauptstadt Astana vermacht.


Jurtenfabrikant und Exgeologe. Auch Malik Gusmanow hat die nomadische Tradition seines Volkes wiederentdeckt. In der Sowjetzeit war er Geologe, suchte nach Diamanten und Gold, fuhr bis an das nördliche Eismeer und verbrachte zwei Jahre in Jakutien. Als das Riesenreich zerbrach, wurde aus dem Naturwissenschaftler nicht nur ein gläubiger Moslem, sondern auch ein Geschäftsmann. 1992 eröffnete Gusmanow seine Jurtenmanufaktur.

Im Hof seines Hauses am Rande von Almaty lagert der 57-Jährige die drei Hauptbestandteile der Jurte: hölzerne Wandgitter, Dachverstrebungen aus Weidenholz, den schanrak, den runden Aufsatz. „Nach der Unabhängigkeit begann ich, mir Fragen zu stellen: Wer sind die Kasachen? Woher kommen wir?“, erzählt Gusmanow, der den Vollbart eines Gläubigen und eine traditionelle kasachische Kappe trägt. Sein Fazit: „Die gesamte Kultur der Kasachen ist in der Jurte vereint.“ Gusmanow, der die „tolle Energetik“ des traditionellen Heimes anpreist („keine Ecken, also kein Platz für böse Geister“), exportierte seine Jurten bereits in die USA und nach Europa. In guten Jahren habe er 500 Stück verkauft, an reiche Menschen, die Luxus-Jurten im Garten aufbauen, an Reiseveranstalter oder Restaurants.

Ein Problem hat der Unternehmer allerdings: Grundstoffe wie Holz und die kunstvollen Filzteppiche, die zur Isolation dienen, muss er aus den Nachbarländern Usbekistan und Kirgisistan importieren. Billig sind die mobilen Behausungen nicht: Sie kosten von 1400 Euro bis zu 120.000 Euro.

Häufiger sind deshalb in Kasachstan heutzutage „moderne“ Konstruktionen aus Metall mit Textildecke anzutreffen. Senbek Oschakpaew hat mit seiner Jurtenfabrik „Erkin“ zwar das Handwerk von seinem Vater übernommen, nicht aber die traditionelle Fertigung. Seine Jurten bestehen aus leichten Eisenröhren und Industriefilz. Lediglich 20 Minuten benötigt man zum Aufstellen, 150 Kilogramm wiegt das moderne Nomadenzelt – um 100 Kilogramm weniger als das traditionelle.

Kasachischer „Freiheitswille“.
Im Zentralen Staatsmuseum von Almaty darf ein Filzzelt als Exponat selbstverständlich nicht fehlen. Hatran Dosimbek, ein ernster, hagerer Mann im gestreiften Poloshirt, glaubt, dass das mentale Erbe der Nomadengesellschaft bis in die Gegenwart hinein spürbar sei. Der „Freiheitswille“ der Kasachen bestehe im 21. Jahrhundert weiter, ist der Chef des ethnografischen Zentrums überzeugt. Eine gewagte Behauptung in einem Land, in dem die Opposition am Rande der Illegalität steht und freie Meinungsäußerung – wie zuletzt im Fall des kritischen Theaterregisseurs Bolat Atabajew – mit „Anstiftung zur sozialen Unruhe“ verwechselt wird.

Die heutige, weitgehend kommerzielle Nutzung der Jurten in Restaurants und Ressorts bereitet dem Ethnologen kein Kopfzerbrechen. „Unsere Traditionen werden in der Gegenwart weiterentwickelt.“ Dosimbek, der sich sogar „Jurten aus Plastik“ vorstellen kann, hält eine Rückkehr der Kasachen ins Nomadenleben allerdings für ausgeschlossen: „Die Menschen haben einen anderen Lebensstil – kaum jemand beschäftigt sich heute noch mit Viehzucht. Und ich kenne niemanden, der sich nach diesem Leben sehnt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2012)

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