L'Aquila-Beben: Sechs Jahre Haft für Wissenschaftler

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309 Menschen starben beim Beben von L'Aquila. Sechs Seismologen und ein Zivilschützer wurden verurteilt, weil sie die Risiken herunterspielten.

[ROM] 309 Menschen starben, als im Frühjahr 2009 im mittelitalienischen Bergstädtchen L'Aquila die Erde bebte. Dreieinhalb Jahre später gab es Montagabend ein juristisches Nachbeben, und dessen Erschütterungen sind gewaltig.

Weil sie nicht ausreichend vor dem Beben gewarnt hätten, wurden sechs italienische Spitzenforscher und der Vizechef der Zivilschutzbehörde zu je sechs Jahren Haft und zur Zahlung von 7,8 Millionen Euro Schadenersatz verurteilt. Der Staatsanwalt hatte vier Jahre verlangt, die Verteidigung auf glatten Freispruch plädiert.
Der Richter sah „vielfache fahrlässige Tötung" als erwiesen an. Er befand, die Wissenschaftler hätten mit beschwichtigenden Äußerungen die Bürger allzu sehr in Sicherheit gewiegt. Die Einwohner hätten sich nach der Beruhigung durch die Wissenschaftler vertrauensvoll in ihre Häuser zurückgezogen. Mindestens 29 Menschen seien nur deshalb zu Tode gekommen. Erschlagen von Trümmern, als sich am frühen Morgen des 6. April 2009 jene Erdstöße ereigneten, durch die das historische Zentrum der 70.000-Einwohner-Stadt bis heute verwüstet ist. Die Verteidigung wies darauf hin, dass sich nach wissenschaftlicher Weltmeinung der Zeitpunkt eines Bebens nicht voraussagen lasse.

„Beruhigt ein Glas Wein trinken"

Der entscheidende Punkt: Die sechs Wissenschaftler und der Vizechef der Zivilschutzbehörde hatten sechs Tage vor dem Beben in L'Aquila beraten. Seit Weihnachten hatte die Erde täglich gebebt, die Bürger waren unruhig. Darauf beschloss Guido Bertolaso, Italiens oberster Zivilschützer, in einem „Event für die Medien" sollten Italiens vereinte Spitzenforscher die Leute „beruhigen, Besorgnisse zerstreuen und sofort jedweden Schwachkopf zum Schweigen bringen", der vor einem Großbeben warnte.

Zwar diskutierten die Wissenschaftler bei ihrem einstündigen Treffen - bei dem sie die Daten nur oberflächlich beurteilen konnten - die Lage durchaus unterschiedlich, Bertolasos Vize aber trat vor die Fernsehkameras und sagte: „Die Wissenschaftler bekräftigen, dass keine Gefahr besteht." Und: die Bewohner sollten ruhig in ihre Häuser zurückkehren „und ein Glas Rotwein trinken." Sechs Tage später waren L'Aquila und fünfzig Gemeinden in der Nähe verwüstet.
Praktisch wurden also nicht wissenschaftliche Aussagen verurteilt, sondern politische - jene der Zivilschutzbehörde. Stellt sich also die Frage, ob in den Wissenschaftlern überhaupt die richtigen Personen vor Gericht standen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2012)

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