Julya Rabinowich:"Wenn man Glück hat, überlebt man!"

Julya RabinowichWenn Glueck ueberlebt
Julya RabinowichWenn Glueck ueberlebt(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Schriftstellerin erzählt von ihrer Zeit als Punkgirl. Manche Punkgruppierungen waren reaktionärer als Buchhalter, sagt sie. Rabinowichs größtes Vorbild war ihre Großmutter.

Sie haben russisch-jüdische Wurzeln, leben seit Langem in Wien – mit Ihrer 17-jährigen Tochter. Wie feiern Sie Weihnachten?

Julya Rabinowich: Mit Baum, klarerweise! Aber es werden auch japanische Feste gefeiert mit der neuen Frau meines Exmannes. Wir feiern russisches Neujahr – und Ostern in jeder Fassung, da gibt es ja einige. Es läppert sich allerhand zusammen. Ich finde diesen Ritualreigen sehr nett. In der Zeit der UdSSR war Weihnachten verboten, aber die Russen holten es mit Geschenken und Tannenbaum zu Neujahr nach. Den Tannenbaum konnte man ihnen nicht austreiben.

Was war das Wichtigste, was Sie von Ihrer Tochter gelernt haben?

Meine Ängste zu überwinden und auch zu vertrauen. Das war schon in der Schwangerschaft so: stärker zu sein, als ich es mir zugetraut habe.

Haben Kinder und Jugendliche es heute leichter als früher?

Jede Generation hat ihr Kreuz zu tragen. Meine Tochter wird erwachsen in einer Welt, in der absehbar ist, dass sie abbaut: ökologisch, wirtschaftlich. Wir erlebten die Ausläufer der Schatten des Krieges, die aber am Verblassen waren. Wir hatten die Idee, dass irgendwie alles noch besser wird. Dieser Glaube ist, scheint mir, schwer erschüttert. Unbegrenztes Wachstum – immer mehr, immer größer, immer reicher – wird es ganz einfach nicht spielen. Eine gute Ausbildung garantiert keinesfalls einen sicheren Arbeitsplatz. Für jugendliche Rebellion bleibt wenig Raum – Eltern wollen auch noch jugendlich sein. Jugend ist ein medizinisch und sozial ausgedehnter Raum geworden.

Sie waren einmal ein Punkgirl. Ist Ihre Tochter braver, als Sie es waren?

Wenn meine Tochter nur ein Viertel von dem machen würde, was ich gemacht habe, wäre ich fertig mit den Nerven. Sie ist braver, ja. Aber da klopfe ich jetzt gleich auf Holz. Das wollen wir nicht verschreien. Ich habe sie allerdings auch sehr frei erzogen. Sie hatte nicht das Bedürfnis, derartig zu rebellieren wie ich, die äußerst streng und behütet erzogen worden ist.

Wieso gerade Punk?

Ich habe eine Menge probiert. In Wien gab es damals einige Mischformen. In London oder Berlin waren die Grenzen zwischen den Bewegungen viel strenger gezogen. Einer der Gründe, warum ich ausgestiegen bin, war, dass ich draufgekommen bin, dass manche Punkgruppierungen reaktionärer waren als ein Buchhalter, der wenigstens seine Schuhbänder selbst hat aussuchen können. Da gab es Kleidercodes und Gewichtsklassen, die man nicht überschreiten durfte. Bei den Hippies war es z.B. total verpönt, wenn man nicht sehr dünn war. Von grenzenloser Freiheit war da nicht die Rede.

Sie haben auch auf der Straße gelebt?

Eine sehr kurze Zeit. Ich bin mit einem Fast-Aufriss nach einer Party nach Berlin gefahren. Wir sind in den falschen Zug gestiegen, haben uns zerstritten und getrennt. Ich wähnte mich trotzdem in Sicherheit – eine Freundin meiner Mutter arbeitete in der Botschaft. Blöderweise war sie aber drei Wochen auf Urlaub in Wien. Da bin ich dann gestanden mit meinen 19 Jahren in Berlin, ohne Geld und ohne Rückfahrticket nach Wien. Zu stolz, um klein beizugeben und zurückzufahren.

Sie wurden in St. Petersburg geboren. Ihre Eltern sind beide bildende Künstler. Sie machen 2013 eine Ausstellung über Ihren Vater Boris Rabinowich (1938–1988) im Jüdischen Museum. Wie war Ihre Beziehung zu ihm?

Ich war 17 Jahre alt, als er starb, plötzlich und völlig unerwartet. In diesem Alter ist man mitten in der Ablösung, man hat fürchterliche Schuldgefühle, und dieser Konflikt wird nie gelöst. Im Jüdischen Museum wird nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Werk zu sehen sein – und eine Arbeit von mir.

Ihr Vater muss ein mutiger Mann gewesen sein. Er verließ seine Heimat mit Frau, siebenjährigem Kind, der Großmutter mütterlicherseits – ohne wirkliche Jobaussichten.

Die Erste, die einen Job hatte, war meine Großmutter. Sie war unglaublich emanzipiert. Dreimal verheiratet. Zweimal unglücklich. Der dritte Mann trug sie auf Händen, sie war sehr glücklich mit ihm. Leider ist er sehr früh gestorben. Sie wurde Witwe, als sie etwa fünfzig Jahre alt war und sagte, ihr komme kein weiterer Mann ins Haus. Sie stammte aus einer relativ einfachen Familie, war Kunsthistorikerin, hat viele Bücher über russische Künstler verlegt. Dieses Bild einer konzentriert am Schreibtisch daheim arbeitenden Frau war sehr prägend für mich; auch, dass irgendwann ein großer Stapel Blätter als Buch zurückkam.

Haben sich Ihre Eltern nicht einen bürgerlichen Beruf für Sie gewünscht, nachdem sie selbst eine so ungesicherte Existenz hatten?

Ganz im Gegenteil! Jede Familie verteidigt ihr System. Als ich sagte, ich werde Dolmetscherin, gab es großes Geschrei: Was? Du willst einen Brotberuf ergreifen? Wie kannst du uns so derartig vor den Kopf stoßen? Das Familiensystem darf man eben nicht in Frage stellen, und doch passiert oft genau das. Ich habe ein paar Alt-68er gekannt, die entsetzt waren über ihre Kinder, die im Anzug daherkamen und Jus studierten, justament Jus, um die Eltern zu provozieren. Und natürlich vice versa: die Tochter aus gutem Hause, die sich in Indien herumtreibt.

Kultur, Bücher, Filme, Träume – sind diese Dinge ein Trost für Sie? Oder mehr?

Träume sind eine Art Trost, aber auch eine Art Selbstbetrug mit einem Schuss Verdrängung. Wenn ich mein Leben nur mehr ins Reich der Träume verbanne, habe ich für eine handfeste Krise nach einigen Jahren vorgesorgt. Träume ich hingegen gar nicht, erstarrt auch meine Innenwelt. Es ist, wie bei so vielem, eine Frage der Balance.

Für eine Künstlerin ist das eine erstaunlich realistische Einstellung. Sie sind dann doch trotz der elterlichen Proteste Dolmetscherin geworden: Russisch/Deutsch. Wie hat das Ihre Arbeit als Autorin beeinflusst?

Ich habe vor allem für Flüchtlinge, Asylwerber gedolmetscht, auch in deren Therapiesitzungen. Das hat mir unglaublich viel gegeben, aber auch unglaublich viel genommen. Es war eine Art Osmose. Ich habe Energie hineingesteckt, und es ist auch Energie zurückgekommen. Aber das Verhältnis hat irgendwann nicht mehr gestimmt. Ich habe deutlich gespürt, meine Psyche verkraftet dieses Leid nicht mehr. Ich habe dann aufgehört, aber die Arbeit fehlt mir manchmal.

Die meisten verdrängen das Leid, das um sie herum täglich stattfindet.

Für mich war das Sammeln von Material, um darüber zu schreiben, auch sehr wichtig. Ich habe vier Jahre für mein letztes Buch, „Die Erdfresserin“, über das Schicksal einer Prostituierten aus dem Osten mit einem behinderten Sohn, den sie daheim bei Mutter und Schwester zurückgelassen hat, recherchiert. Ich habe auch Theaterstücke und Kurzgeschichten über das Thema geschrieben. Fürs Erste bin ich allerdings jetzt einmal durch damit, obwohl ich noch sehr viel Material habe.

Die Heldin der „Erdfresserin“ heißt Diana. Die Göttin der Jagd. Warum?

Dianas Leben ist eine Art Jagd, nach Geld, nach Überleben, nach sich selbst.

Kann man die Flüchtlingsprobleme lösen?

Nur durch Politik und Diplomatie. Wo Krieg herrscht, gibt es Brandschatzung, Flucht, Mord, Vergewaltigung. Die Europäer sollten nicht vergessen, dass so etwas nicht räumlich begrenzt ist. Diese Ereignisse können auch wieder zu uns kommen, und wir können Teil davon sein. Es ist noch nicht lange her, dass Europa kein sicherer Ort war.

Bietet der Literaturbetrieb mit der Zeit, wenn man etabliert ist, eine Art Sicherheit?

Der Literaturbetrieb bietet so viel Vorsorge wie ein Lawinenabgang. Wenn man Glück hat, überlebt man und wird berühmt. Aber es macht mich sehr zufrieden, von meiner Arbeit leben zu können, mich für niemanden verbiegen zu müssen und von meiner Meinungsfreiheit täglich Gebrauch machen zu können.

Fühlen Sie sich in Österreich zu Hause? Gibt es überhaupt so etwas wie Geborgenheit?

Ich habe Wien, Österreich nicht als Westen empfunden, sondern als meine Heimat. Das Russland der Vergangenheit ist zu weit weg, und das heutige soll mir auch fern bleiben, wenn ich mir die politische Lage so ansehe, und den Umgang mit dem freien Wort. Meine Geborgenheiten sind kleine, private Inseln in meinem Leben – es ist kein großer Kontinent, noch nicht einmal Festland.

Steckbrief

1970
Geboren in St. Petersburg

1977
Julya Rabinowich fliegt mit Eltern und Großmutter in die Ukraine – angeblich auf Urlaub. Sie landen in Wien, lassen sich hier nieder. Ein Schock für die Siebenjährige, sie erzählt davon in ihrem Buch „Der Spaltkopf“.

1993
Rabinowich studiert an der Universität Wien Dolmetschen, Abschluss 1996.

1998
Studium der Malerei und Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien, Abschluss 2006.

2009
Rabinowich gewinnt den Rauriser Literaturpreis, ein Jahr darauf erhält sie das Elias-Canetti-Stipendium.

2011
Nach „Der Spaltkopf“, neben einer Emigrations- auch eine Familiengeschichte (2008), erscheint „Herznovelle“ über psychische Veränderungen einer Frau nach einer Herz-Operation.

2012
„Die Erdfresserin“ über eine illegale Prostituierte, die in Wien lebt, erscheint.


1... ob Sie je, etwa in Ihrer Punkphase als Jugendliche, Drogen genommen haben?
Nein. Ich hasse es, mein Bewusstsein einzutrüben. Ich lege großen Wert auf meinen Verstand. Außerdem habe ich damals mitbekommen, wie Leute starben: Einer fiel besoffen vor die U-Bahn, ein Mädchen wurde tot im Park gefunden. Ihre Familien hatten viele dieser Jugendlichen verstoßen, alle sozialen Systeme hatten versagt. Aus Lust an der Rebellion geht keiner auf die Straße, um dort zu leben.2... ob Sie einmal überlegt haben, was Sie Gott sagen würden, wenn Sie ihn sehen könnten?
Wenn mir Gott erschiene, würde ich mich als Erstes in der Psychiatrie durchchecken lassen.3... ob Sie religiös sind? Oder woran Sie glauben?
Gläubig ist das falsche Wort. Ich glaube an gewisse höhere Ordnungen. Aber ich würde dieser höheren Ordnung kein Bild verleihen. Wenn also jemand käme und behauptete, Gott zu sein, würde ich in erster Linie an schlimme Halluzinationen denken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2012)

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