Ägypten: Umstrittene Verfassung in Kraft

Vom nächsten Parlament hängt ab, wie das von den Muslimbrüdern diktierte Grundgesetz ausgelegt wird. Der Wahlkampf hat schon begonnen.

Kairo/Ag./Gaw/Red. Ägyptens Präsident Mohammed Mursi hatte es verdammt eilig: Am Dienstagabend war das offizielle Endergebnis des zweitägigen Verfassungsreferendums verkündet worden, und als die Ägypter am nächsten Morgen aufwachten, hatte Mursi das neue Grundgesetz über Nacht bereits in Kraft gesetzt. Warum er sich so beeilte, hat einen einfachen Grund: Regelmäßig hatte in den vergangenen Monaten die Justiz dem Präsidenten und seinem islamistischen Lager Erfolge verdorben, etwa die erste Parlamentskammer aufgelöst oder Entscheidungen des Präsidenten kassiert.

63,8 Prozent derjenigen, die sich am Referendum beteiligten, haben sich laut Endergebnis für den Verfassungsentwurf ausgesprochen. Selbst die von der Opposition eingelegten Beschwerden über Unregelmäßigkeiten beim Wahlgang haben die Mehrheit der Jastimmen laut oberster Wahlkommission nicht kippen können.

Viele der Ägypter, die mit Ja gestimmt hatten, taten das jedoch nicht in Unterstützung der Islamisten, sondern in der Hoffnung, dass das Land damit endlich zu Ruhe und Stabilität findet und sie dadurch wieder Arbeit und ein Auskommen finden. Mursi drückte denn auch die Hoffnung aus, dass die Annahme der Verfassung beitragen könne, das Land zu befrieden. An der Abstimmung über das neue Grundgesetz beteiligten sich aber nur 32,5 Prozent der Wahlberechtigten, was die Zustimmung auf nur etwas mehr als 20 Prozent der Stimmbürger reduziert.

Maßnahmen gegen Kapitalflucht

Präsident Mursi will sich nun auf die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme konzentrieren. In den vergangenen Tagen hat sich die Lage zugespitzt. Viele Ägypter haben sich nach dem Erfolg der Islamisten beim Referendum sicherheitshalber mit harten Dollars eingedeckt, in Erwartung eines Sturzes des ägyptischen Pfundes. Die Regierung versucht nun, der grassierenden Kapitalflucht Herr zu werden und hat ein Ein- und Ausfuhrverbot für Beträge von mehr als 10.000 Dollar erlassen.

Umstritten ist die Verfassung vor allem deshalb, weil sie von den Muslimbrüdern quasi im Alleingang geschrieben wurde. Die säkularen Kräfte, die in der verfassungsgebenden Versammlung in der Minderheit gewesen waren, hatten diese unter Protest verlassen. Sie werfen den Muslimbrüdern vor, mit dem Grundgesetz den Weg zur Islamisierung von Staat und Politik bereitet zu haben.

Wahl binnen 60 Tagen

Die Verfassung ist indes nicht automatisch eine Tür zum Gottesstaat. Viele der sehr vagen Formulierungen müssen erst einmal interpretiert, neue Gesetze geschrieben werden. Und da kommt es auf das Kräfteverhältnis an. Der kommenden Parlamentswahl, die innerhalb von 60 Tagen stattfinden muss, kommt also eine Schlüsselrolle zu. Dabei geht es für beide Seiten darum, die fast 70 Prozent der Wahlberechtigten zu mobilisieren, die beim Referendum zu Hause geblieben sind. Die Verfassungsdiskussion war für viele Menschen zu abstrakt. Aber mit Themen wie soziale Gerechtigkeit, Bildungssystem und Krankenversorgung könnten sich in einem Land, in dem jeder Vierte mit gut einem Euro am Tag auskommen muss, viele dieser Nichtwähler mobilisieren lassen. Wollen die Liberalen die Islamisten diesmal an den Wahlurnen schlagen, dann müssen sie diese Themen belegen und die Islamisten an ihrer Regierungsverantwortung festnageln.

Selbstbewusste Opposition

Die Opposition gibt sich selbstbewusst. Mohamed ElBaradei, Ex-Chef der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien und heute einer der führenden Oppositionellen, spricht von dem Verfassungsreferendum lediglich als verlorener Schlacht in einem noch andauernden Krieg. Diesen könnten die Liberalen noch gewinnen, hofft er, wenn es die Opposition schaffe, sich zu einen. Die Islamisten dagegen feiern ihren Sieg auffällig leise. Mohammed Badie, der Chef der Muslimbrüder, forderte alle Ägypter, ob Männer, Frauen, Muslime oder Christen auf, jetzt zusammenzuarbeiten.

Die Muslimbrüder stellen nun den Präsidenten, sie haben ihre Verfassung durchgesetzt und in der Parlamentskammer, die bis zur Wahl eines neuen Unterhauses die Gesetze schreibt, die Mehrheit. Was zunächst wie eine gute Nachricht für sie aussieht, bedeutet aber auch, dass sie jetzt die volle politische Verantwortung tragen.

Eine Verantwortung, die ihnen bisher nicht gut bekommen ist: Zwar haben sie bei jeder Wahl im Jahr 2012 den Sieg davongetragen, die Sieges-Marge wurde allerdings mit jedem Mal kleiner.

Chronologie: Wahlmarathon in Ägypten

Ägyptens Revolution markierte den Beginn eines Abstimmungsreigens: Bereits im März 2011, also zwei Monate nach dem Sturz von Diktator Mubarak, nahmen die Ägypter per Referendum Verfassungsänderungen an. Um den Jahreswechsel 2011/2012 fand die erste freie Parlamentswahl statt, aus der die Islamisten als Sieger hervorgingen. Die Präsidentschaftswahl im heurigen Mai gewann der Muslimbruder Mohammed Mursi. Beim jüngsten Referendum setzten die Islamisten ihre Verfassung durch, auf deren Basis in 60 Tagen ein neues Parlament gewählt wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2012)

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