Der digitale Zwilling der Erde

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Ein digitaler Zwilling kann heute einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Mit DestinE wird das Konzept auf eine komplett neue Ebene gehievt: ein digitaler Zwilling der Erde.

Digitale Zwillinge stehen wie kaum ein anderes Werkzeug für die positiven Auswirkungen, die Digitalisierung auf wirtschaftliche Produktion haben kann. Das Funktionsprinzip ist schnell erklärt. Digital Twins sind virtuelle Modelle eines Prozesses oder Produktes, welche die reale und die virtuelle Welt verbinden. Physische Objekte – zum Beispiel eine Windkraftanlage – werden mit Sensoren ausgestattet und liefern Daten über Leistungsaspekte. Das virtuelle Modell der Anlage, sprich die digitale Kopie, wird mit diesen Daten gefüttert. In der Folge können Computersimulationen durchgeführt werden, um zu testen, wie sich die Veränderung von einzelnen Parametern auf die Leistung der Anlage auswirken. Somit lassen sich mögliche Probleme verstehen und bearbeiten, bevor sie überhaupt in der Realität auftreten. Die Computersimulationen helfen quasi, die Zukunft vorauszusagen und zu planen.

Digitale Zwillinge kommen heutzutage vornehmlich in der Produktionstechnik zum Einsatz, sei es beim Design von Energieanlagen, Autos oder, im Rahmen von Building Information Modeling (BIM), bei der Konzeption von Gebäuden. Der Vorteil in diesen Bereichen: Mit den virtuellen Objektdarstellungen lässt sich der gesamte Lebenszyklus eines Produkts abbilden, was durchgehende Optimierungen ermöglicht. Was wäre aber, wenn man das Konzept weiter denken würde, um es auf die größtmögliche Ebene zu hieven? Wie wäre es mit einem digitalen Zwilling der Erde?

Entwicklung von Wetterextremen

Was utopisch klingt, hat de facto bereits einen Namen. Destination Earth, kurz DestinE, ist das vorläufige Ergebnis einer zehnjährigen Planung durch führende europäische Klima-, Geowissenschafts- und Computerwissenschaftler. Die Idee dahinter: Die Entwicklung eines hochpräzisen digitalen Modells der Erde, um natürliche Phänomene und damit verbundene menschliche Aktivitäten zu modellieren, zu überwachen und zu simulieren. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Nutzung für den verantwortungsvollen Umgang mit extremen Wetterereignissen und Klimaveränderungen. So wird sich DestinE zunächst auf die Auswirkungen des Klimawandels, der Wasser- und Meeresumwelt, der Polargebiete, der Kryosphäre und der biologischen Vielfalt konzentrieren. Es soll dazu beitragen, größere Umweltschäden und -katastrophen mit noch nie dagewesener Genauigkeit und Zuverlässigkeit vorherzusagen.

„Die ungewisse Entwicklung von Wetterextremen im Zuge des Klimawandels erhöht den politischen Druck, die wissenschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und die Wissenschaft in gesellschaftlichen Nutzen umzuwandeln“, sagt dazu Peter Bauer, DestinE-Programmdirektor beim Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage, ECMWF – und wird dabei konkret: „Die zukünftigen Klimabedrohungen erfordern dringende und invasive Maßnahmen. Wahrscheinlich müssen wir Deiche bauen, vielleicht müssen wir bestimmte Gebiete evakuieren. Wir müssen uns jedenfalls darauf vorbereiten, unsere gesamte Lebensweise umzustrukturieren. Dazu braucht man taugliche Informationen, die einem bei diesen wichtigen Entscheidungen helfen.“

Antworten auf allen Ebenen

Bauer vergleicht das in Entwicklung befindliche Zukunftsinformationssystem mit einer Art Chat GPT, bei dem Menschen Fragen stellen können wie: „Wie hoch ist das Risiko von Küstenüberschwemmungen in Schweden im Jahr 2050?“ und „Was ist das kosteneffizienteste Anpassungsszenario?“ Anstelle der eher begrenzten Antworten, die das Modell der künstlichen Intelligenz liefern könnte, werde DestinE mehrere Informationsschichten mit unterschiedlichen Abstraktionsebenen (gesellschaftlich, über das Erdsystem, …) bereitstellen, die für verschiedene Nutzer geeignet sind und auf jeder Stufe einen unterschiedlichen Grad an Interaktivität aufweisen. Davon sollen Bürger bei der täglichen Entscheidungsfindung ebenso profitieren wie zivile Dienste bei Aufgaben der Notfallbewältigung oder Versicherer beim Risiko- und Schadenmanagement. Die Vorhersage von Umweltauswirkungen auf Lebensmittel-, Landwirtschafts- oder Energiemärkte kann wiederum als Faktenbasis für politische Entscheidungsträger dienen. „Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel für Wetter- und Klimavorhersagen und wir erwarten uns herausragende gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen“, so Peter Bauer.

200 Millionen Euro

Der offizielle Start von DestinE erfolgte am 30. März 2022 auf Initiative der Europäischen Kommission in Form einer Kooperation zwischen ECMWF, der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) und der Europäischen Organisation für die Nutzung meteorologischer Satelliten (Eumetsat). Bis Mitte des Jahres 2024 sollen aus dem Programm Digitales Europa rund 200 Millionen Euro in das Projekt fließen und die ersten digitalen Dienste zur Verfügung gestellt werden, zunächst dem öffentlichen Sektor und danach der Wissenschaft, dem Privatsektor und der breiten Öffentlichkeit.

Der Ausbau ist in mehreren Schritten geplant. In der ersten Umsetzungsphase wird das DestinE-System bis Ende 2024 drei Hauptpunkte umfassen. Neben der Einrichtung einer zentralen Plattform für digitale Replikate von Erdsystemen und Naturphänomenen, den sogenannten digitalen Zwillingen der Erde, geht es um die Einrichtung einer von der ESA betriebenen Kerndienstplattform (Core-Service-Plattform), auf der Entscheidungshilfen, Anwendungen und Dienste auf einem offenen Cloud-gestützten Computersystem bereitgestellt werden, sowie um den von Eumetsat betriebenen Data Lake, der als Speicherraum einen Zugang zu den Datensätzen bieten wird. Der Data Lake baut dabei auf bereits bestehenden wissenschaftlichen Datensätzen wie den Daten- und Informationszugangsdiensten des Copernicus-Programms (Dias) auf und wird durch andere Nicht-Geodaten wie sensorgestützte Umweltdaten und sozioökonomische Daten ergänzt.

„Mit Destination Earth spielen wir Europas Trümpfe aus. Wir kombinieren unsere Ressourcen, von der künstlichen Intelligenz über Cloud-Computing und Hochgeschwindigkeitsnetze bis hin zum Copernicus-Erdbeobachtungsprogramm und unseren European-High-Performance-Computing-Supercomputern“, sagt Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen.

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