Randerscheinung

Mehr Ausblick, weniger Privatsphäre

Carolina Frank
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So ein Haus-Abriss ist übrigens auch nicht mehr das, was er einmal war. Er hat den Vibe von gewissenhafter Mülltrennung.

Mir geht es momentan wie dieser Frau in der legendären Lotto-Werbung. Das Haus vis-à-vis wird nämlich abgerissen. Und plötzlich sehe ich dort, wo bisher ein Dach mit zwei schrägen Fenstern war, schöne alte Bäume. Anders als in der Lotto- Werbung, wo sich die Neomillionärin keine neue Wohnung leistet, sondern mit dem Gewinn jenes Haus abreißen lässt, das ihr den Blick aus ihrer alten Wohnung ins Grüne verstellt, steht mir der neue Ausblick nur vorübergehend offen. Es wird ein neues Haus gebaut, noch dazu um eine Spur höher als das bisherige.

So ein Abriss ist übrigens auch nicht mehr das, was er einmal war. Nämlich etwas Brachiales, Bagger oder Abrissbirne gegen Ziegel- oder Betonmauern, wummbumm. Oder gar eine Sprengung, bei der ein ganzes Haus binnen Sekunden in sich zusammenfällt. Schutt und Asche. Nein, der Abriss hat den Vibe von gewissenhafter Mülltrennung. Menschen in Pandemiekleidung plus Schutzmasken (mindesten FFP8, vermute ich) zerlegen das Haus fast zärtlich in seine Einzelteile. Alte Dachschindeln werden in eine eigene Schütte verbracht, die Metallrahmen der Dachfenster kommen zum Alteisen, Schalter und Kabel zum Elektroschrott, die Dachbalken zum Altholz. Schicht für Schicht, Baustoff für Baustoff verschwindet die Hülle allmählich. Der Bagger höhlt den verbliebenen Rohbau vorsichtig aus, dabei wird von einem der Schutzanzügler mit einem Schlauch Wasser versprüht, um die Staubentwicklung einzudämmen.

Die Arbeiter haben dabei übrigens auch ihr Ausblickerlebnis: mein Schlaf- und Badezimmer. Die neuen Bäume bezahle ich also mit weniger Privatsphäre bzw. mehr geschlossenen Jalousien. Spätestens nächsten Sommer ist dann hoffentlich wieder alles, wie es war. Außer ich gewinne bis dahin noch im Lotto.

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("Die Presse Schaufenster" vom 23.06.23)

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